Berliner Musiklabel Altercat: Die Wiederauferstehung Werthers

Das Berliner Label Altercat stöbert verschollen geglaubte Musik aus aller Welt auf und kontextualisiert sie. Überraschungen gehören zur Philosophie.

Sergi Roig zwischen seinen Platten

Leitfaden für das Programm von Altercat ist der persönliche Geschmack von Gründer Sergi Roig Foto: Sergi Roig

Ein gewisser Werther aus Rio de Janeiro, der wirklich so heißt wie die Romanfigur von Goethe, nahm vor mehr als 50 Jahren eine Platte mit astreinem Bossa Nova auf. Erschienen ist sie ursprünglich auf einem Mini-Label, dem die finanziellen Möglichkeiten fehlten, diese im großen Stil zu promoten. Somit ging die Platte kommerziell komplett unter – und jener Werther nahm danach nie eine weitere auf.

Ende der Neunziger, als brasilianische Musik der Sechziger und Siebziger neu entdeckt wurde, auch Dank amerikanischer Popgrößen wie Beck oder David Byrne, interessierten sich ein paar Plattensammler erneut für diese Obskurität. Und wer heute eine Originalpressung von ihr haben möchte, sollte bereit sein, einen vierstelligen Betrag hin zu blättern.

Das Berliner Label Altercat hat vor zwei Jahren das Album wieder veröffentlicht und so erneut eine gewisse Aufmerksamkeit auf das einst verschollene Album gelenkt. Und nun, so berichtet Sergi Roig von Altercat in seinem Friedrichshainer Wohnzimmer-Office, sei Werther gerade dabei, als inzwischen alter Mann doch noch eine weitere Platte aufzunehmen. Er sagt das nicht ohne Stolz und in dem Wissen, dass seine Arbeit einen großen Anteil an dem unerwarteten Comeback hat.

Reissue-Labels gibt es viele. Das Aufstöbern verschollen geglaubter Musik aus aller Welt ist längst ein funktionierendes Business geworden. Vor allem Sammler von Vinylschallplatten werden hier angesprochen, die seltenen Scheiben hinterher jagen und diese sich so endlich leisten können.

Somit könnte man meinen, Altercat sei nur ein Label unter vielen. Was Altercat dann doch zu einem besonderen Unternehmen macht, ist, dass mit den Ausgrabungen nicht nur ein bestimmtes musikalisches Interesse bedient wird, sondern dass Überraschungen unbedingt zur Philosophie gehören. „Ich will nicht den Geschmack der Leute füttern, den sie schon haben“, sagt Roig, „ich will nicht nur liefern, was gewollt wird, etwas, das funky und groovy ist. Ich will auch Unerwartetes bieten.“

Offen für alles

Brasilianische Musik gehöre klar zu seinem Interessensgebiet, sagt Roig. Das lässt sich allein schon an seiner Plattensammlung in seinem Musikzimmer erkennen. Aber auch Afro-Jazz, Psychedelic- und Garage-Rock aus aller Welt seien für ihn wichtig. Er selbst komme eher aus der Garage-Rock-Szene, sagt er, bevor er auch andere musikalische Gefilde für sich entdeckt habe. „Das Label ist somit offen für alles“, sagt er, „aber es gibt einen Leitfaden: meine Person und meinen Geschmack.“ Aus all den Bereichen, für die er sich inzwischen erwärmen kann, macht er, der aus der Nähe von Barcelona stammt und nun schon seit mehr als einer Dekade in Berlin lebt, bestimmte Alben neu zugänglich.

Außerdem ist Altercat gar nicht festgelegt auf Reissues. Die allererste Platte, die auf dem Label veröffentlicht wurde, stammt vom zeitgenössischen Afrodyssey Orchestra, einer Combo aus Griechenland, die Afro-Jazz spielt. Roig hatte diese zufällig bei einem Konzert im Badehaus in Friedrichshain gesehen, kam mit der Band ins Gespräch und stellte fest, dass diese noch gar keine Plattenfirma hatte. Er, der davor hauptsächlich in Bars aufgelegt und Konzerte organisiert hatte, dachte sich: Dann bring ich halt eine Platte von denen heraus.

Der primäre Fokus seiner Arbeit liegt jedoch auf dem Heben vergriffener musikalischer Schätze. Im letzten Jahr hat er ausschließlich Wiederveröffentlichungen herausgebracht. Er bedient damit die Interessen dieses Marktes. Die meisten seiner Platten gibt es zusätzlich zur regulären Version noch limitiert und in farbigem Vinyl.

Sie sind immer versehen mit einem sogenannten Obi, einem informativen Flyer, mit dem die Platte präsentiert wird. Und im Normalfall gibt es noch ein Booklet mit Texten und Fotos, teilweise von ihm selbst verfasst, aber auch von ihm bekannten Experten. All das spricht den typischen Plattensammler an, der ständig etwas Neues für sein Regal bracht. Man erkennt darin aber auch die Mission, eine bestimmte, meist weitgehend unbekannte Musik ausreichend zu kontextualisieren, einem sich selbst gestellten Bildungsauftrag nachzugehen.

Geheimnisvolle Platte

Allein schon wie beispielsweise die aktuellste Altercat-Veröffentlichung präsentiert wird, könnte das auch bei Neueinsteigern dazu führen, dass sie sich spätestens jetzt endlich einen Plattenspieler zulegen möchten. Die Platte „Inpiracion“ von Ara Tokatlian sieht so geheimnisvoll aus und das Cover mit dem halbnackten Saxophonisten mit einer Frau in Ekstase wirkt so vielversprechend, dass man sich diese wirklich nicht bloß bei Bandcamp anhören möchte.

Dass das ursprünglich 1975 erschienene Album des Argentiniers ein sagenhafter Spiritual-Jazz-Trip ist, eine Mischung aus John Coltrane und Esoterik-Geflöte, macht diese Platte zudem auch rein musikalisch zu einem echten Wunderwerk. Und man fragt sich, wie so oft bei Altercat: Warum bitte hat man nie zuvor etwas von diesem Album gehört?

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