Anarchistisches Ehrenamt in der Ukraine: Solidarisch und unbürokratisch

Die anarchistische Hilfsorganisation Radical Aid Force reist von Berlin aus in die Ukraine. Ihr Weg der Hilfe zur Selbsthilfe.

Vier Personen begrüßen sich herzlich.

Nestor (rechts) und Asya, zwei Aktivist:innen, werden von lokalen Hel­fe­r:in­nen in der befreiten Stadt Lyman begrüßt Foto: Yelizaveta Landenberger

Wolja abo smert – Freiheit oder Tod“, lautet das Motto der anarchistischen Hilfsorganisationen Radical Aid Force aus Berlin. Es prangt auf ihren Shirts, Stickern, Aufnähern und auf ihrem Instagram-Profil, neben anderen typischen Symbolen wie dem anar­chis­ti­schen eingekreisten A und der schwarz-roten anarchosyndika­listischen Flagge.

Die Losung geht auf den bekannten ukrainischen Anarchisten ­Nestor Machno zurück, dessen An­hän­ger*in­nen, die sogenannte Machnowtschina, während des Russischen Bürgerkriegs 1917 bis 1921 große Gebiete im Süden der Ukraine kontrollierten.

Das momentan in Frontnähe gelegene Saporischschja und seine Umgebung war Zentrum dieser Bewegung. Städte wie das von russischen Truppen zerstörte und besetzte Mariupol befanden sich vor rund hundert Jahren unter anarchistischer Kontrolle.

Pseudonym: Nestor

Nestor ist auch das Pseudonym eines der Freiwilligen von Radical Aid Force, die sich Anfang Januar auf eine siebentägige Tour mit Hilfslieferungen bis wenige Kilometer vor die Frontlinie begeben. Es geht von Berlin über Lwiw, Kyjiw, Poltawa, Charkiw und die nur wenige Kilometer von den aktuellen Kampfhandlungen entfernten Orte Slowjansk, Kramatorsk und das befreite Lyman – und anschließend wieder zurück nach Deutschland, insgesamt etwa 5.000 Kilometer.

So wie die anderen Ak­ti­vist*in­nen der Radical Aid Force möchte Nestor anonym bleiben, denn: „Es geht hier nicht um uns, sondern um die Menschen in der Ukraine.“ Auf Fotos tragen sie stets eine Sturmhaube, oder ihre Gesichter sind verpixelt.

„Anarchismus ist freies Leben und unabhängiges Schaffen des Menschen“, schreibt Machno in seinem „ABC des revolutio­nären Anarchisten“. Darin heißt es auch: „Er ist nicht die Lehre einer Theorie und auf Grund dieser Lehre künstlich geschaffener Programme.“ Es geht den An­ar­chist*in­nen damals wie heute um direkte Aktion, Humanismus, nicht um endlose theo­retische Studien und Diskus­sionen.

Während nationalistische Figuren aus der ukrainischen Geschichte wie Stepan Bandera, der auch mit den Na­tio­nal­sozia­lis­ten kollaborierte, viel Aufmerksamkeit auch hierzulande erfahren, ist vom Revival Machnos und der Rolle anarchistischer Ideen im subkulturellen Widerstand gegen den ­aktuellen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eher wenig bekannt.

Freiheit für die Ukraine

Dabei vereinen sich verschiedene Menschen über Nationalstaatengrenzen hinweg, die ein klares Ziel teilen: Freiheit für die Menschen in der Ukraine. Auf der einen Seite sind da die antiautoritären Sol­da­t*in­nen, die nicht nur aus der Ukraine, sondern etwa auch aus Belarus, Russland und Großbritannien stammen, auf der anderen Seite Hel­fer*in­nen, die sich zu verschiedenen Gruppierungen zusammengeschlossen haben und Zi­vi­lis­t*in­nen und Kämp­fer*in­nen mit Hilfslieferungen unterstützen.

„Unser Kontakt in die Ukraine kam durch die Punkszene zustande“

Als eine solche Gruppierung versteht sich auch die Berliner Radical Aid Force. Über ihren Ins­ta­gram-Account sammelt sie Spenden, mit Fundraisern und dem Verkauf von Merch, Solipartys und Konzerten, um davon Winterkleidung, Wärmeschutz für Sol­da­t*in­nen in Schützengräben, Medizin, Nahrung für Zi­vi­li­st*in­nen in frontnahen Gebieten und sogar Drohnen, Starlinks und Fahrzeuge für die ukrainischen Streitkräfte zu kaufen und eigenhändig in die Ukraine zu bringen.

Radical Aid Force unterhält dafür auch eine Verbindung zu einer Berliner Skatepunkband, die sie beim Spendensammeln unterstützt. Daneben kooperiert sie mit verschiedenen gleichgesinnten Hilfsorganisationen innerhalb und außerhalb der Ukraine wie den Kyjiwer Solidarity Collectives und Help War Victims (HWV).

So begleitet die Aktivistin Asya von HWV Radical Aid Force auf einem Teil der jetzigen Fahrt ganz im Osten, um beim Übersetzen zu helfen. Zudem ist ihr das nicht gerade ungefährliche Gelände gut bekannt, denn HWV führt unter anderem Evakuierungen von Zi­vi­lis­t*in­nen aus unter Beschuss geratenen Orten durch.

Linke Solidaritätsnetzwerke

Beruflich ist Asya eigentlich Toningenieurin, produzierte früher Dubreggae und war in antifaschistischen Kreisen aktiv. Es habe sich politisch in den letzten Jahren vor der russischen Invasion in der Ukraine viel bewegt. Begeistert berichtet sie über linke Solidaritätsnetzwerke, die sich bei Telegram organisieren, und die gut besuchte Tanzdemo im Kyjiw-­Podil-Viertel gegen Polizeigewalt am 21. Mai 2021. Jetzt könne sie keine Musik mehr machen, momentan widme sie sich voll und ganz der ehrenamtlichen Arbeit.

Radical Aid Force übernachtet an einem der Tourentage in den Lagerräumlichkeiten von HWV auf dem Boden neben meterhoch gestapelten Kisten voller Hilfsgüter. Die Winterfahrt in die Ukraine unternimmt Radical Aid Force mit zwei Minibussen, bis an den Rand mit Hilfslieferungen gefüllt, sowie mit einem olivgrünen, mit Spendengeld finanziertem Suzuki-Jeep. In der Ukraine angekommen, wird das Fahrzeug den Sol­da­t*in­nen der 110. Brigade übergeben.

Vor der Übergabe wird im Fond noch eine Botschaft hinterlassen: „This car is called Susi. Susi likes to fight Russia!“

Bei der Spendenaktion für diese Winterhilfsfahrt sammelten sie einen Betrag von 13.120 Euro. Manchmal wird die Spotify-Punkrock-­Playlist à la „Schneller leben (Stirb jung)“ von den Ärzten auf der Tour von Mainstreamsongs unterbrochen. „Die Young“ von ­Kesha, „Grenade“ von Bruno Mars und „Hero“ von Enrique Iglesias. An schwarzem Humor mangelt es den Aktivisten jedenfalls sicher nicht.

Kontakt durch die Punkszene

„Unser Kontakt in die Ukraine kam durch die Punkszene zustande“, sagt Radical-Aid-Force-Mitglied Zora, am Steuer des Vans sitzend. Nestor war früher selbst Mitglied einer Hardcorepunkband, er spielte zusammen mit verschiedenen Bands aus der Ukraine. Befreundet sei man etwa mit Bezlad aus Charkiw.

Man habe den Bekannten aus der Szene direkt am 24. Februar 2022 geschrieben und gefragt, wie man am besten helfen könnte. So ging es mit dem ehrenamtlichen Engagement los. Die subkulturellen Bezüge von früher leben weiter in Form internationaler Solidarität für die Menschen in der Ukraine im Krieg.

Unterwegs bei einem Zwischenstopp in den Lagerräumen der Solidarity Collectives in Kyjiw werden die Opfer, die der Befreiungskampf fordert, sichtbar: über dem Kamin hängen Fotos gefallener anarchistischer Soldat*innen. Zuletzt starb ihr Freund Marsy im Kampf um Avdiivka, berichten Hel­fer*in­nen der taz. Bevor er in den Kampf zog, schloss der Brite in Oxford ein Geschichtsstudium ab. Weitere Details und sein voller Name werden auf Wunsch der Familie nicht genannt.

Die Aufgaben, die sich Radical Aid Force und ihre Freunde seit Beginn des russischen Angriffskrieges setzen, lauten: ­Zi­vi­lis­t*in­nen und Sol­da­t*in­nen in frontnahen Gebieten mit allem unterstützen, was dringend benötigt wird und wo staatliche Strukturen versagen – und dadurch Leben retten. Schnell, ­solidarisch, unbürokratisch, in Zeiten schwindenden öffentlichen Interesses am Schicksal der Ukraine und niedriger ­Temperaturen im Kriegswinter überhaupt keine leichte Aufgabe.

Perfekt geplant

Entgegen allen Chaotenklischees entpuppen sich die An­ar­chis­t*in­nen der Radical Aid Force als wahre Organisationstalente. Die Hilfstour ist minutiös durchgeplant, selbst Kaffeepause und Feierabendbier werden für weitere Planungsschritte und Treffen mit Kontakten genutzt, etwa mit dem aus Belarus stammenden Anar­chis­ten Warpunx, der an der Seite der Ukraine kämpft und dem ein Starlink für seine Einheit übergeben wird. Für das Ausfüllen der Zollkontrollformulare existiert sogar ein mobiler Drucker an Bord. Für Schlaf bleibt wenig Zeit.

Auf dem Rückweg nach Berlin sind die beiden Vans nicht etwa leer, sondern transportieren ältere Geflüchtete zur Geflüchtetenannahmestelle Berlin-Tegel, wo sie übernachten und am nächsten Tag in ebenfalls von den Ak­ti­vis­t*in­nen organisierte Privatwohnungen fahren – um nicht in Massenunterkünften bleiben zu müssen.

Am Ende der langen Hilfsfahrt sagen die An­ar­chis­t*in­nen der taz, dass man sich am nächsten Tag noch etwas ausruhen wolle, bevor es dann wieder direkt weitergehe: die nächste Tour planen, Buchhaltung, Spenden sammeln. Weitermachen werde man mindestens, bis die Ukraine gewinnt.

Radikale Solidarität ist kein Zuckerschlecken.

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▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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