Psychiaterin Stuart-Smith über Gärten: „In Kontakt mit Lebendigem kommen“

Gärtnern ist Raum-Zeit-Medizin, ist Unlearning kolonialer Gefüge und eine Form von Kunst, meint die britische Psychiaterin Sue Stuart-Smith.

Zwei Personen in gestreiften Anzügen gärtnern in einem Garten.

Ein Garten auf der Gefängnisinsel Rikers Island im East River von New York wird von Insassen gepflegt Foto: Lindsay Morris

taz: Frau Stuart-Smith, wir sind verabredet, um über Gärtnern zu sprechen, aber es ist Winter. Eine unpassende Jahreszeit?

Sue Stuart-Smith: Es ist eine mystische Zeit. Einerseits ist es die Jahreszeit, in der wir dem Tod am nächsten kommen, anderseits bereitet sich schon neues Leben im Unsichtbaren vor. Es ist ein Zeitraum der Transformation, in den wir uns versenken sollten, weil wir auf diese Art Gewissheit finden, dass es kaum so etwas wie einen absoluten Tod gibt – eine Lebensform stirbt und geht in eine andere über. Und doch ist das Auflösen der Form eine wichtige Erfahrung. Kreativität bedeutet, etwas Neues zu gestalten. Der Antrieb dazu ist nicht in erster Linie der Wunsch, Altes zu überwinden, sondern eng mit der Erfahrung von Verlust verbunden.

Sue Stuart-Smith

ist klinische Psychiaterin, Psychotherapeutin und Gärtnerin. Zusammen mit ihrem Mann, dem Landschaftsarchitekten Tom Stuart-Smith, schuf sie während der Corona­pandemie das Serge Hill Project für Gärtnern, Kreativität und Gesundheitsfürsorge. 2024 wird der Garten mit einer 1.500 Arten umfassenden Pflanzenbibliothek für das Publikum öffnen. Ihr Buch „The Well Gardened Mind“ („Vom Wachsen und Werden“, Piper Verlag 2021) war in Großbritannien ein Bestseller.

In Ihrem Buch „Vom Wachsen und Werden“ zitieren Sie viele Studien, die den Effekt des Gärtnerns auf die psychische Gesundheit untersuchen. Welche Ergebnisse sind für Sie am wichtigsten?

Der wichtigste Aspekt für mich ist, dass Gärtnern Menschen sowohl jeglichen Alters als auch in vielen unterschiedlichen Schwierigkeiten oder Lebenskrisen helfen kann. Ich nenne den Garten zuweilen eine Raum-Zeit-Medizin. Dazu gehört das Gefühl der Einhegung in einem Garten: einen Schutzraum um sich zu haben, ohne eingeschlossen zu sein. Es ist eine Art Schwebezustand: man befindet sich zwischen einem Zuhause und der Außenwelt. Dazu kommt der Zeit­aspekt. Gärten können uns in die Kindheit versetzen, uns an die Großeltern erinnern lassen. Wenn wir jedoch am Arbeiten oder Beobachten sind, bringen sie uns ganz in den gegenwärtigen Moment. Der andere, sehr wesentliche Aspekt ist die positive Antizipation. Wir freuen uns auf das, was wir in der Zukunft erwarten. Das ist zum Beispiel sehr wichtig für Menschen, die mit einem Trauma, einem großen Verlust oder Angststörungen umgehen müssen. Durch positive Erwartungen entsteht Motivation, ein Sinn für die eigenen Ziele, was wiederum unser Dopaminsystem beeinflusst.

Was macht einen Garten zum therapeutischen Garten beziehungsweise zu einem, mit dem man sich verbinden möchte?

Das Gefühl einer Einfriedung, was ich zuvor genannt habe, ist sehr wichtig. Auch das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Zudem braucht es unterschiedliche Bereiche: Arbeitsbereiche, aber auch solche, die zum Entspannen einladen, wo jemand allein mit der Natur sein kann. Es sollte ein Ort sein, an dem man sowohl aktiv als auch kontemplativ sein kann. Allein sein in einem Garten hat eine besondere Qualität. Man ist umgeben von Leben, aber muss sich nicht erklären oder etwas Schlaues sagen, sondern kann sich konzentrieren auf andere Beziehungsebenen.

In Berlin wurde in diesem Jahr ein Palliativgarten am Charité-Krankenhaus eröffnet. Er wurde aus Spenden­geldern finanziert. Bei den vielen positiven Effekten, die Sie in Ihrem Buch nennen, scheint es erstaunlich, dass Krankenhäusern solche Investitionen so schwerfallen. Wie ist das in Großbritannien?

Bei Hospizen gibt es eine gewisse Gartentradition. Bei Krankenhäusern ist das weniger der Fall. Die Wohltätigkeitsorganisation Horatio’s Garden kreiert jedoch Rollenmodelle und hat viel in dieser Richtung bewegt. Ja, ich kenne die Argumentation, dass Krankenhausgärten– trotz Erhebungen, dass sie unter anderem zu relevant früheren Entlassungen führen können – zu teuer zu unterhalten seien. In dieser Beziehung müsste zirkulärer gedacht werden. Bei Horatio’s zum Beispiel gibt es nur einen angestellten Gärtner, alle anderen sind Freiwillige. Dies sind Menschen, die keinen eigenen Garten haben, aber gerne einmal in der Woche darin arbeiten möchten. Dieses Prinzip wäre ausbaufähig. Statt öffentliche Grünflächen so billig wie möglich im Unterhalt zu machen, könnten sie durch Beteiligungsprinzipien funktionieren. Die Fürsorge könnte der Bürgerschaft übergeben werden! Klar, es erfordert Reife, Organisation und Logistik, aber ich glaube, diese Qualitäten wären bei einer Veränderung der Denkweise verfügbar.

Was braucht es, um Respekt für eine Grünanlage zu erzeugen beziehungsweise das Auge für deren Schönheit zu öffnen?

Ich finde, es gilt hier etwas, was auf andere Bereiche des Lebens auch zutrifft: Je größer die Diversität und Komplexität einer Grünanlage ist, desto interessanter wird sie. Wenn immer dieselben, günstigen und widerständigen Pflanzen angebaut werden, dann ist das nicht nur langweilig, sondern ästhetisch gesehen ein Prinzip nach dem Motto: Wir bieten den Bürgerinnen eine Schuhgröße, die allen passen muss …

Schönheit ist ein wesentlicher Aspekt, sie hat, auch in anderen Erscheinungsformen, einen transformativen Effekt. Die Philosophin und Autorin Iris Murdoch schrieb das Buch „Die Souveränität des Guten“, in dem sie der Schönheit einen Effekt von Selbstlosigkeit oder Selbstentgrenzung („un-selfing“) zuspricht, sodass wir mit dem Gegen­über verschmelzen können und aus dieser Erfahrung revitalisiert hervorgehen. Schönheit ist emotionale Nahrung.

Sie nennen den Garten eine Co-Kreation von menschlichen und Natur-Energien, Sie betonen, dass es darüber hinaus um ein reziprokes Gestaltungssystem geht: Nicht nur wir gestalten den Garten, sondern er auch uns. Würden Sie Gärtnern als Kunst bezeichnen?

Es kann definitiv eine Kunstform sein. Es kommt natürlich darauf an, inwieweit jemand kreativ ausdrücken kann, und auch darauf, ob das wahrgenommen wird. Das Komplexe daran ist, dass der Kunstbegriff sehr auf menschliche Kreativität gerichtet ist. In Hinblick auf den Garten müssen wir anders darauf schauen: Es geht im Tun und im Wahrnehmen um eine Beziehungsfähigkeit. Wenn die hergestellt ist, kann Gärtnern auch eine niederschwellige Kunstform sein, gerade, weil man die Wirkung nicht alleine hervorbringen muss und kann. Man setzt Dinge in Bewegung, man formt sie, passt sie an, bekommt eine Antwort, beobachtet usw. Um diesen kreativen Dialog auf einem hohen Niveau künstlerisch zu gestalten, gibt es noch viele unausgeschöpfte Möglichkeiten.

In „Vom Wachsen und Werden“ schildern Sie auch ethnologische Forschungen. Sie zitieren zum Beispiel Ethnologen, die die Nutzgärten des Tro­briand-Stammes auf Neuguinea für Kunst halten. Auch können Sie sich vorstellen, dass Kunst und Gärtnern eine gemeinsame Wurzel in Ritualen haben.

Zwar werden inzwischen teilweise Maschinen für das Gärtnern benutzt, aber im Grunde sind die Mechaniken und Techniken fast dieselben geblieben. Sie sind Jahrtausende alt. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern. Auch können in unserem Jahrhundert so viele Dinge vollkommen unabhängig von der Jahreszeit gemacht werden; beim Gärtnern jedoch geht das nicht. Es ist eine der wenigen Tätigkeiten, die wir nicht sinnvoll automatisieren können. Rituale sind untrennbar mit dem Gärtnern verbunden, da es uns für die Zyklen und Dynamiken des Lebens sensibilisiert, und uns, indem es sie bestätigt, stabilisiert. Und ja, es gibt die Theorie, dass der Garten selbst das Ergebnis eines Rituals ist. So wurden in verschiedenen Kulturen die ersten Wildfrüchte eines Baumes den Göttern geopfert. An den Opferplätzen könnten die Samen der Früchte dann gekeimt haben, die Grundlage für das Entstehen eines Gartens.

Die europäische Vorstellung vom Garten ist noch kaum durch einen Dekolonialisierungsprozess gegangen. Was könnten wir lernen, wenn wir uns darum bemühten?

Vieles! Ich glaube, das Wissen über Natur und Gärten, das in Teilen der Welt bestand, bevor sie kolonisiert wurde, war ein sehr ausgeprägtes, das viel mehr in Resonanz mit der Umwelt war. Es wurde von der agrokulturellen Ideologie der Kolonisten als Wert komplett übersehen.

Was gäbe es an Lösungen?

Ein ausdifferenzierteres Verständnis des Gartens würde uns viele Lösungswege in Bezug auf die derzeitige ökologische Situation aufzeigen. Pädagogische Konzepte zu entwickeln, anhand derer bereits kleine Kinder an ein eigenes Verhältnis mit der Natur herangeführt werden, könnte vieles verändern. Ich mache mir Sorgen, über den Grad von Niedergeschlagenheit, mit der sie im Verhältnis zum Zustand unseres Planeten aufwachsen. Es muss sich für sie oft so anfühlen, als sei schon alles zu spät, als könne man ohnehin nichts mehr tun. Wer in direkten Kontakt mit lebendigen Prinzipien kommt, spürt dagegen auch Möglichkeiten und die Weisheit der Regeneration, die in der Natur – und damit letztlich in uns allen – steckt.

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