„GRM Brainfuck“ von Sibylle Berg: Schwarz und schwärzer

Das Deutsche Theater Göttingen inszeniert Sibylle Bergs Techno-Dystopie – leider gerät das allzu monochrom.

Szene aus GRM Brainfuck

Gefühle von Lebendigkeit entstehen nur beim Konsumieren: Rebecca Klingenberg (l.) und Jenny Weichert Foto: Thomas Aurin

Na dann: Gute Nacht – nicht nur heute Abend, sondern auch für alle utopischen Morgenröten? Aktuelle Fehlentwicklungen des globalen Miteinanders von Mensch und Mensch sowie Natur hat die Autorin Sibylle Berg gesammelt, knackig analysiert und meinungsstark zu einer gar nicht so fernen Dystopie zugespitzt. Ihre über 600 Seiten starke Gegenwartsanklage, den Roman „GRM. Brainfuck“, dramatisierte am Deutschen Theater Göttingen nun, seitenzahlmäßig sehr gestrafft, Regisseur Niklas Ritter.

Wie Berg nutzt er ein „Sammelbecken für die Unnützen“, die postindustrielle Brache Rochdale in Nordwestengland, als Infektionsort übler Neoliberalismus-Viren. Und erwähnt die Folgen dieser Pandemie: Klimawandel, Artensterben, Brexit, Migration, Abbau von Sozialstaat und Gesundheitssystem, Verarmung, Rechtsradikalismus, Klassismus – bis hin zum Wandel des Internets. Einst das „größte Anarchismus-Experiment der Geschichte“, sei es nurmehr „Ort der Verblödung, der Verhetzung, der Manipulation und Frustration“.

Geblendet vor lauter Bühnendunkelheit ist das Göttinger Publikum von Beginn an. Ein stummes Windrad wartet vergeblich auf eine optimistische Brise. Das Schauspieler:innen-Sextett agiert eingegittert im ersten Rochdale-Teil, der London-Aufenthalt dann spielt sich, nach der Pause, um einen höhlenartigen Rückzugsort herum ab. Anders als die „GRM“-Uraufführung des Hamburger Thalia Theaters im Herbst 2021 deutet die Göttinger Inszenierung die Rap-Natur des stakkatohaften, Gedanken- mit Zeilenumbrüchen markierenden Textes nur an. Meist wird aber auktorial in direkter Publikumsansprache referiert.

Das Ensemble kommt kaum ins Spielen miteinander, nicht ins Spielen einzelner Szenen des Plots, auch nicht ins Erspielen der zentralen Persönlichkeiten Don, Hannah, Karen und Peter – nur ins Berichten über diese privat traumatisierten und von der Sozialbürokratie ignorierten Kinder. Ungetröstet-cool kultivieren sie als typisierte Figuren in Kriegsbemalung die nagende Wut und den kalten Zorn der Ausgegrenzten, befeuern gewaltbereit brodelnden Hass, um ihn produktiv in Stellung zu bringen gegen die Verzweiflung, im Burn-out-Modus rotierend.

Das totalüberwachte Leben

Geradezu sachlich werden erst mal ihre familiären Höllenszenarios vorgestellt: geprägt von Vernachlässigung sowie Misshandlung, Eltern, die verloren gehen durch Suizid, Mord, Unfall, Drogenmissbrauch, Alkoholismus oder an den Knast. Es folgen Schilderungen der von Porno-Überdosen versauten Pubertät. Auch Einblicke in den Alltag der dekadenten Upper Class bestätigen den Eindruck einer degenerierten Gesellschaft.

Für jede Figur werden Steckbriefantworten verlesen zu Gefährderpotenzial, Ethnie, Interessen, Sexualität, Konsumverhalten, Aggressionspotenzial, Intelligenz, Kreditwürdigkeit etc. – Verweis auf den Chip, den in der Brainfuck-Zukunft jene eingesetzt kriegen, die Grundeinkommen beziehen wollen. Mit der Folge eines fortan totalüberwachten Lebens, gesteuert durch ein Social-Scoring-System mitsamt Strafe und Belohnung. Zum Premierminister wählen die Bür­ge­r:in­nen derweil einen KI-gesteuerten Avatar.

8., 18. + 26. 1., Göttingen, Deutsches Theater

Bergs Abrechnungssuada betont so auch in Ritters Kurzfassung die Digitalisierung als Instrument der Repression. Die Einsamkeit im Virtuellen lässt zudem das gesamte Stückpersonal frösteln. Gefühle von Lebendigkeit entstehen nur noch beim Konsumieren. Immerhin erglimmt ein Fitzelchen Sehnsucht nach Autonomie: Die vier Freunde wollen dem White-Trash-Schicksal mit widerständigem Erwachsenwerden begegnen und beschließen: „Keiner wird uns mehr verletzen.“

Auf einer abzuarbeitenden Todesliste versammeln sie alle, die ihnen Leid zugefügt haben. Da Männer vor allem mit totalitärem Gehabe als frauenverachtende Brutalo-Monster daherkommen, will Karen zudem die Trinkwasserversorgung infiltrieren mit einem Testosteron, also die männliche Libido neutralisierenden Mittelchen: „Das würde 90 Prozent aller Probleme auf dieser Welt lösen.“ Aber alles endet mit der ernüchternden Behauptung vom Scheitern der Guerillakrieger. „Sie werden ordentliche Berufe in der neuen Mitte der Gesellschaft einnehmen.“

Kollabierende Wirklichkeit

Weil es an prägnantem Regiezugriff mangelt, kommt diese Negativentwicklung aber in chronischer Empörungsbetonung daher. Rhythmisch wird nicht groß variiert, in der Erzählweise fehlen Verdichtungen, inhaltlich die Fokussierungen. So reiht der Abend recht eintönig Elend an Elend, türmt Ungerechtigkeit auf Unheil auf Grausamkeit, mäandert eingenebelt trostlos zwischen Schwarz und Schwärzer. Wo Bergs Vorlage noch vielschichtig schillert, auch von bitterbösem Witz und energischem Furor, fehlt das alles nun vollends.

Die Musik hilft auch nicht gegen diese finstere Monotonie: Düster wallende Sounds zu blassen Beats lassen nicht mal eine Ahnung aufkommen von der Textflow-Rasanz und dem synkopierten Groove der britischen HipHop-Spielart Grime, die immerhin in Roman- und Stücktitel auftritt: „GRM“.

Und mangels Empathie-Support für die Figuren erlöst auch keine Katharsis das Publikum, weckt keine neue Sicht auf die kollabierende Wirklichkeit Interesse. Zwar ist jeder Satz klug gedacht, toll formuliert, präzise gesprochen und gekonnt für die sechs Stimmen orchestriert – und doch siegt unerbittliche Illusionslosigkeit. Na dann: Gute Nacht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.