„Sie liegt in drei Gräbern“

Antje Kosemund liest aus „Sperlingskinder“

■ 83 Jahre, in Hamburg geboren, setzt sich seit Jahrzehnten für eine würdige Erinnerung und das Gedenken an die Euthanasieopfer ein.

Frau Kosemund: In wie vielen Gräbern liegt Ihre Schwerster Irma Sperling?

Antje Kosemund: Sie liegt in drei Gräbern: In Wien wurde ihr Körper 1944 in einem Massengrab verscharrt, ihr Gehirn 1996 in Ohlsdorf auf den Ehrenfriedhof beigesetzt und noch später, 2002 in Wien, ein wiedergefundener Gehirnschnitt bei der Gedenkstätte für Euthanasieopfer.

Ihre Schwester, Opfer der NS-Euthanasie und -Medizin, wurde Ihr Antrieb zum Schreiben?

Ja, letztlich war ihr Schicksal mein Antrieb. Ich habe die Sterbeurkunde von Irma erstmals 1983 gesehen. Die Daten von Todestag und der Sterbeurkunde passten nicht zusammen, da habe ich nachgeforscht.

In Ihrem Buch schildern Sie den Lebensweg einer einfachen Arbeiterfamilie während des Nationalsozialismus – ohne Pathos.

Ich habe versucht, ehrlich zu schreiben. Das Leben von Menschen, meiner Familie, die gegen den Nationalsozialismus handelten, verläuft nie gradlinig. Schwarz-Weiß-Denken hilft nicht weiter.

Selbst in Ihrer Familie ist das Leid Ihrer Schwester über Jahrzehnte unausgesprochen geblieben?

Dieses Schweigen hat mich sehr belastet. Was ist da passiert? Vielleicht hat der frühe Tod unserer Mutter das Nicht-Darüber-Reden verfestigt. INTERVIEW: AS

Lesung: „Sperlingskinder“: 20 Uhr, Kulturhaus Eppendorf, Julius-Reincke-Stieg 13a