Menschenrechtler über Nordsyrien: „De-facto-Protektorat der Türkei“

Menschenrechtler haben Anzeige gegen protürkische Milizen in Syrien erstattet. Es gehe um die Glaubwürdigkeit der Strafjustiz, sagt Patrick Kroker.

Soldaten in Tarnkleidung

Viele kämpfen fürs Geld: protürkische Milizionäre in Afrin, hier im Februar 2018 Foto: Khalil Ashawi/rtr

taz: Herr Kroker, Sie haben beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen Milizen in Syrien gestellt. Eine Ihrer Zeuginnen wurde verschleppt und sexuell versklavt. Ein anderer berichtet, wie seine Olivenbäume zerstört wurden. Was geschieht da in Nordsyrien?

Patrick Kroker: Diese Milizen haben eine Terror- und Willkürherrschaft in der Region Afrin installiert, und zwar auf Geheiß der Türkei, mit deren Unterstützung sie das Gebiet seit sechs Jahren kontrollieren. Vor allem die kurdische und die jesidische Bevölkerung leiden darunter. Die Milizen bereichern sich an allem, was die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner einst hatten.

Warum ehemalig?

Die Straftaten stehen in Zusammenhang damit, dass die kurdische Bevölkerung vertrieben wird. Häufig werden Häuser besetzt, wird Eigentum beschlagnahmt. Wenn die Leute wiederkommen und ihr Haus oder Auto zurückhaben wollen, werden sie eingesperrt und gefoltert, oft wird Lösegeld verlangt. Mittlerweile hat ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden.

Wer sind die neuen Bewohner?

Die Türkei versucht mithilfe der Milizen, die Gegend zu „arabisieren“ beziehungsweise zu „tür­ki­fi­zieren“. Kurden werden vertrieben, geflüchtete Araber und auch Turkmenen werden aus anderen Teilen Syriens oder aus der Türkei nach Afrin verfrachtet.

In der Strafanzeige schildern Sie, wie Kurdisch von Arabisch und Türkisch verdrängt wird, etwa auf Straßenschildern. In den Schulen wird nicht Kurdisch, sondern Türkisch unterrichtet. Die türkische Lira wird verwendet und die türkische Post ist auch vor Ort. Handelt es sich um eine Annexion?

Die Türkei hat nie gesagt, dass Afrin Teil ihres Staatsgebiets ist oder werden soll. Trotzdem übt sie zu 100 Prozent Kontrolle aus. Völkerrechtlich handelt es sich um eine Besatzung. Übrigens unter völligem Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit. Weder die internationale Presse noch Menschenrechtsorganisationen haben Zugang zu diesem De-facto-Protektorat der Türkei in Syrien.

Krieg in Syrien: Nach Beginn des Syrien-Kriegs 2011 zerfiel das Land in mehrere Herrschaftsbereiche. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad hat mittlerweile zwei Drittel des Landes zurückerobert, doch in Nordsyrien haben weiterhin andere Kräfte die Kontrolle.

Türkei in Syrien: Die Türkei ist seit 2016 mehrmals mit Bodentruppen in Nordsyrien einmarschiert; 2018 eroberte Ankara im Rahmen der Operation „Olivenzweig“ die syrische Region Afrin von kurdischen Kräften. Seitdem übt die Türkei die Kontrolle in dem Gebiet mithilfe von verbündeten Milizen aus.

Karlsruhe und Syrien: Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit 2011 zu Syrien. Im Fokus stehen das Assad-Regime sowie der „Islamische Staat“ (IS). Die Behörde kann aufgrund des Weltrechtsprinzips auch dann aktiv werden, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind. In der Realität wird Karlsruhe nur tätig, wenn sich Verdächtige in Deutschland aufhalten. Die Ermittlungen haben zu mehreren Prozessen und Urteilen geführt.

ECCHR und Syrien: Das European Center of Constitutional and Human Rights hat mit syrischen Partnern mehrere Anzeigen eingereicht – zuletzt Mitte Januar gegen Milizen in Afrin. (hag)

Was treibt die Türkei an?

Afrin war bis zur türkischen Militäroffensive 2018 einer der am stärksten kurdisch geprägten Teile Syriens, Schätzungen zufolge bis zu 90 Prozent. Nach Ausbruch des Syrienkriegs 2011 bis 2018 war die Region ein Teil der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien, die von der Türkei als existenzielle Bedrohung gesehen wird. Um eine kurdische Autonomie nachhaltig zu verhindern, arbeitet man in Ankara darauf hin, dass die Bevölkerungsmehrheit in Afrin nicht mehr kurdisch ist.

Wie weit ist die Türkei damit?

Heute gehen Schätzungen von noch 30 bis 40 Prozent Kurdinnen und Kurden in Afrin aus. Bis zu 300.000 Menschen sind vertrieben worden.

Sie sprachen von einer Terrorherrschaft. Welche Verbrechen werfen Sie den Milizen konkret vor?

Gezielte Tötungen, Folter, Vergewaltigungen, sexuelle Versklavung, Plünderungen und anderes. Wichtig ist, dass diese Verbrechen systematisch gegen die Zivilbevölkerung verübt wurden und werden, um diese zu vertreiben.

Im Zusammenhang mit dem Gazakrieg wird derzeit über Genozid diskutiert. Warum sprechen Sie im Falle Afrins nicht davon?

Die juristischen Anforderungen für einen Genozid sind sehr hoch. Es muss konkret darum gehen, eine Gruppe als solche auszulöschen. Viele der Straftaten in Afrin richten sich gezielt gegen die kurdische Bevölkerungsgruppe, aber ich wäre zurückhaltend, dies als Zerstörungsabsicht zu qualifizieren. Außerdem wäre die Frage, ob die Kurden speziell in Afrin als konkrete Gruppe einzustufen sind. Mit dem Genozid-Begriff wäre aber ohnehin nicht viel gewonnen, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählen bereits zur schwersten Kategorie von Verbrechen.

ist Rechtsanwalt. Er arbeitet für die Menschenrechts­organisa­tion ECCHR in Berlin. Dort leitet er die Arbeit zu Menschenrechtsverbrechen in Syrien.

Die Anzeige richtet sich gegen sechs Milizenführer. Was wissen Sie über diese Personen?

Das sind Leute, die eine hervorgehobene Position in insgesamt vier Milizen bekleiden. Aber wenn man etwas zur Anzeige bringt, bringt man einen Sachverhalt zur Anzeige. Die Anzeige richtet sich gegen alle, die für die Verbrechen verantwortlich sind. Wir haben aus mehreren Dutzend Milizen vier große, notorische Gruppen ausgewählt, über deren Führer auch genug bekannt ist.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Abu Hatem Shaqra von der Miliz Ahrar al-Sharqiya. Er ist einer, der sich mit viel krimineller Energie eine regelrechte Konfliktbiografie zugelegt hat. Er hat sich bei verschiedenen Milizen eingebracht, um Karriere zu machen, und das Ganze auch für sehr egoistische Zwecke ausgenutzt, um sich selbst zu bereichern. Zu seiner Miliz gehören Kämpfer, die früher beispielsweise auch dem IS angehörten. 2018 kämpfte die Gruppe dann auf der Seite der Türkei.

Sind die Milizen allesamt islamistisch?

Der politische Islam ist präsent, aber nicht dominant. Es geht nicht in erster Linie um Ideologie. Oft steht die Bereicherungsabsicht im Vordergrund. Auf perfide Art und Weise werden Einkommensquellen wie Lösegeld erschlossen. Gleichzeitig werden Kurdinnen und Jesidinnen häufig als „Ungläubige“ beschimpft. Es ist also ein Aspekt unter mehreren. Das übergeordnete Ziel ist das der Türkei, die Bevölkerungsstruktur zu verändern.

Das heißt, Sie haben kleine Fische angezeigt, während der Schirmherr Erdoğan unberührt bleibt.

Die Milizenführer befehligen nach eigenen Angaben tausende Kämpfer. Im Vergleich zu Er­doğan mögen sie klein sein, aber im Vergleich zu den wirklich kleinen Fischen, die für sie die Drecksarbeit erledigen, sind das mittelgroße Fische.

Was bewegt die einfachen Kämpfer, sich einer der Milizen anzuschließen?

Viele machen es fürs Geld. Manche waren vor dem Krieg in der Landwirtschaft tätig, dann brach die normale Wirtschaft zusammen. Bei den Milizen gab es die Aussicht, zu plündern und sich einen Bauernhof, ein Auto oder einen Olivenhain unter den Nagel zu reißen. Außerdem gab es finanzielle Anreize. Zumindest zu Beginn hat die Türkei die Gehälter bezahlt, möglicherweise weit darüber ­hinaus.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer Strafanzeige?

Unsere Hoffnung ist, dass es zu Haftbefehlen kommt und eines Tages zu Strafverfahren.

Aber die Personen, um die es geht, sitzen nicht in Deutschland, sondern in Syrien, oder?

Ja, aber die Erfahrung zeigt, dass Leute, die ein gewisses Standing haben, irgendwann reisen wollen, oft nach Europa. Man kann nicht erst dann anfangen zu ermitteln, wenn sich jemand in einer Klinik in Hannover behandeln lassen will, wie es zum Beispiel Angehörige des iranischen Regimes gern tun. Die Haftbefehle brauchen wir jetzt.

Warum kann nicht gleich gegen Erdoğan vorgegangen werden?

Erdoğan selbst ist vor Strafverfolgung durch nationale Gerichte durch seine Immunität geschützt. Aber uns war wichtig, die Schwelle, über die die Bundesanwaltschaft gehen muss, um die Straftaten in Afrin zu ermitteln, niedrig zu halten. Indem wir uns auf die Milizen fokussieren, ist die Schwelle gleich null, weil es in Karlsruhe bereits ein Strukturverfahren gegen nichtstaatliche Akteure im syrischen Bürgerkrieg gibt. Es geht darum, den Kontext der Verbrechen auszuleuchten, Beweise zu sichern, um möglicherweise weitere Tatverdächtige zu identifizieren.

Auch türkische Tatverdächtige?

Wenn wir über Afrin sprechen, sind die Fingerabdrücke der Türkei überall. Dieser Aspekt muss also gleich mit ermittelt werden. Die juristischen und politischen Hürden, gegen die Türkei als solche vorzugehen, sind viel höher, denn die direkten Täter haben in den seltensten Fällen die türkische Staatsbürgerschaft. Noch dazu ist es in Deutschland politisch schwierig, gegen die Türkei vorzugehen. Gerade deshalb wollen wir die türkische Verwicklung thematisieren. In den Bestrebungen um Aufarbeitung des Syrienkonflikts gibt es nach wie vor blinde Flecken und einer ist Afrin, wo ein Nato-Partner Dreck am Stecken hat. Das ist skandalös.

Kein Zufall?

Unsere Befürchtung ist, dass die Milizen in Ruhe gelassen werden, weil sie auf Geheiß eines engen Verbündeten handeln. Uns geht es also auch um die Glaubwürdigkeit der internationalen Strafjustiz. Das ist vor dem Hintergrund des Gaza­kriegs wichtiger denn je. Nur wenn wir lückenlos vorgehen, wenn wir auch gegen eigene Verbündete, eigene Soldaten und eigene Unternehmen vorbehaltlos im Sinne des Rechts ermitteln, werden wir irgendwann in der Lage sein, auch gegen die Er­doğans und Putins dieser Welt vorgehen zu können.

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