wortwechsel
: Jetzt die Reißleine ziehen: Zweckbündnis gegen AfD

Die großen bundesweiten Demonstrationen sind keine Fata Morgana, sie schüren neue Hoffnung auf Solidarität und gemeinsame Kämpfe gegen Rassismus. Auch für Europa?

Anti-AfD-Demonstration in Düsseldorf am 27. Januar 2024. Hier gingen 100.000 Menschen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße Foto: Thilo Schmuelgen/reuters

„Demos gegen rechts am Wochenende: 800.000 Menschen auf der Straße. Das zeigt eine taz-Auswertung von 300 Demoberichten“, taz vom 29. 1. 24

Slogans überdenken

Liebe Redaktion, ich war am 27. Januar auf der Demo in Düsseldorf: für ein freies und vielfältiges Deutschland. Wir waren mit mehreren Familien mit mixed und dunkelhäutigen Kindern und Erwachsenen unterwegs. Die Kinder, die schon lesen können, waren extrem verstört und in Tränen, weil für sie Schilder und Parolen wie „Deutschland ist bunt, nicht braun“ oder „ Braun ist eine ekelhafte Farbe“ eine ganz andere Bedeutung haben. Sie haben sich auf eine ganz unangenehme Weise abgestoßen gefühlt, von den Leuten, die eigentlich gerade für ein vielfältiges Deutschland demonstrierten. Ich verstehe, wie diese Schilder gemeint sind und dass es in bester Absicht formuliert wurde. Ich möchte jedoch gerne an diese Menschen appellieren, ihre Worte zu überdenken und einen anderen Slogan zu wählen, der nicht die Werte und Menschen verletzt, für die gerade gemeinsam demonstriert wird.

Amelie Matthei, Düsseldorf

Zeitgleich mit den Demos gegen die AfD wird das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ der Ampel beschlossen, damit „Menschen ohne Bleiberecht schneller unser Land verlassen müssen“, so Innenministerin Faeser. Abschiebungen sollen erleichtert werden. Aber kein Wort über diese Doppelmoral bei den Demos gegen die AfD. Anstatt für bezahlbare Heizung, Brot und Frieden zu demonstrieren, verfängt sich der Protest an der falschen Stelle. Seit Langem wird die „Remigration“ von der AfD gefordert. Und im Jahr 2023 haben fast alle anderen Parteien einen Kurswechsel in der Asylpolitik umgesetzt und sich damit der AfD angenähert, obwohl sie sich eigentlich von der AfD distanzieren wollten. Peter Inden, Windeck

Für was wird protestiert?

„Hilft Hass gegen die AfD? Die großen Kundgebungen der letzten Tage sollten keine Proteste gegen, sondern Bekenntnisse für etwas sein: die pluralistische Demokratie“, wochentaz vom 27. 1. 24.

Für die faschistischen Stimmungen haben die bürgerlichen Parteien und PolitikerInnen selbst gesorgt. An die Vernunft allein zu appellieren, dürfte kaum ausreichen. Wer fällt ihnen in den Arm? Wie verbrecherisch ist es, der Bevölkerung Empfinden und Überzeugung vorzuspielen, sie seien Helden im Kampf gegen Faschisten? Adorno soll mal gesagt haben, er fürchte sich nur vor Faschisten in Masken der Demokraten. Roland Winkler, Aue

In der Kolumne „die eine Frage“ überlegt Peter Unfried, ob und wie irgendeine Bundesregierung Politik machen kann, die die großen Fragen nicht mehr aufschiebt und eine starke postfossile Wirtschaft sozialverträglich priorisiert? Anders ausgedrückt: Können Wähler eine Politik tolerieren, die ihnen Verzicht abverlangt? Denn in den nächsten Jahrhunderten gelingt eine Stabilisierung der Lebensverhältnisse nur, wenn der Verbrauch von 1,7 Erden auf 1,0 sinkt.

Klaus Warzecha, Wiesbaden

Europas Dilemma

„Auferstehen aus Ruinen. Was tun gegen die AfD? Verbieten? Ein Kommentar“,

kontext: wochentaz vom 27. 1. 24

In der Beilage „Kontext“ aus Stuttgart wird gegen die Demonstrationen polemisiert: „Um den Faschismus zu bekämpfen, brauchen wir keine gemeinsame Front mit den bürgerlichen Parteien, die den größten Abschiebeknast Europas bauen. Was wir brauchen, ist eine Einheitsfront unter Linken (gegen) Staat und regierende Parteien.“ Wer so polemisiert, hat das Dilemma Europas nicht verstanden: „Ein anhaltender Migrationsdruck und eine quasi automatisch weiter steigende Ungleichheit sind die zwei Probleme, die heutzutage Europas politische Atmosphäre vergiften.“ (Branko Milanović) Es hilft deshalb auch nichts, auf die böse Regierung zu schimpfen. Das gegenseitige Bekämpfen der Demokraten hat schon die Weimarer Republik sturmreif zerlegt. Wir brauchen einen neuen sozialen Konsens in der EU und wir brauchen anstelle der gescheiterten „Entwicklungshilfe“ eine gemeinsame Wirtschaftsgemeinschaft mit Afrika. Und das wird nur möglich sein durch ein breites Bündnis aller Demokraten, die die Demokratie in Europa retten wollen – von den Linken bis zur CDU.

Karl-Martin Hentschel, Kiel

Zur Erinnerung: schon zu Beginn der Coronapandemie gab es aus den Reihen der AfD einen Antrag im Landtag von Baden-Württemberg, der vorsah, dass erkrankte Beschäftigte der hiesigen Schlachthöfe in geschlossenen Behältnissen in ihr Herkunftsland gebracht werden sollten. Mitinitiator war der Landtagsabgeordnete aus unserem Landkreis! Diese Partei und ihre Kandidaten werden nicht trotz, sondern wegen solcher Positionen gewählt! Offenkundig suchen etliche Wäh­le­r*in­nen die einfachsten oder unmenschlichsten Lösungen, um ihrer Demokratieüberdrüssigkeit Ausdruck zu verleihen.

Peter Trumpp, Ilshofen

Ein Produkt des Systems

Der Populismus und der Rechtsextremismus sind weder eine unerwartete Pandemie noch das „Böse“, das plötzlich wieder erwacht. Recht hatte der jüdische Soziologe Zygmunt Bauman: Der Holocaust ist keine Antithese zur Moderne gewesen, sondern ein Produkt davon. Die AfD ist nicht ein Feind unseres Systems, sondern ein radikales Produkt davon. So ist diese Partei im Bauch des Marktradikalismus entstanden, Bernd Lucke stand dafür. Es gibt eine starke Überschneidung zwischen Fremdenfeindlichkeit und Marktideologie. In beiden Fällen spielt das Misstrauen eine wichtige Rolle (Homo oeconomicus). Es geht in beiden Fällen um Wettbewerb, um Status und um Abgrenzung nach unten. Die AfD ist ein Symptom einer tiefen Krise der Demokratie, aber ihre Ursachen sind in der Mitte der Politik zu suchen. Es reicht also nicht aus, eine geschwächte Demokratie zu schützen: Es braucht ein mutiges Programm für die Reform und die Stärkung der Demokratie.

Davide Brocchi, Köln