Der Hausbesuch: Sich bloß nicht einfangen lassen

Michael und Mirja Küster wollten ausbrechen aus der Kleinfamilie. Seit 2022 leben sie in einem Wohnprojekt im Schwarzwald und lernen dazu.

Ein Mädchen und ein Junge strecken sich auf dem Sofa aus, dahinter Vater und Mutter, alle sind in warmes Licht getaucht

Als Familie müssen sie sich im Wohnprojekt neu finden und erfinden Foto: Andree Kaiser

Sie haben sich in ein Abenteuer gestürzt, für das sie nicht weit reisen mussten. Der Schwarzwald ist spannend genug.

Draußen: Eine Landstraße schlängelt sich von Kenzigen aus den Schwarzwald hinauf. Vor dem Ort Bleichheim taucht rechterhand ein Gebäudekomplex auf: zwei große Fachwerkhäuser, davor ein Gemüsegarten, in dem eine große Holzskulptur auf einem Baumstumpf thront. Lichterketten sind über den Hof gespannt. Hier entsteht seit anderthalb Jahren das Wohn- und Kulturprojekt Kirnhalden.

Drinnen: Ein Flur, wo Fotos der Bewohner und Bewohnerinnen hängen, führt in das Hauptgebäude. Es erinnert an eine alte Schule: hohe Decken, Gänge und eine dunkelbraune Treppe in der Mitte. Ein großes Schuhregal steht rechts am Eingang, daneben ein Raum als Garderobe, mit unzähligen Jacken. Links befindet sich ein kleiner Saal, der auch für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Im ersten und zweiten Stockwerk ist der Wohnbereich der aktuell 18 Bewohner*innen. Michael und Mirja Küster leben mit ihren Kindern Thjorben und Runa in der ersten Etage.

Wurzeln: Sowohl Mirja Küster als auch ihr Mann, von allen „Michel“ genannt, sind im Umland von Freiburg geboren. Als er 19 Jahre alt war, starb seine Mutter. „Ich saß bei ihr am Bett, als sie ging, es war ein sehr friedlicher Moment“, sagt er. Nach ihrem Tod zog er aus. „Ich habe mehrere Geschwister, die es nicht so einfach haben, und ich musste aus dem Kontext ausbrechen.“ Mirjas Eltern wiederum haben sich in Schottland kennengelernt; als Kind besuchte sie mit ihnen unterschiedliche Wohngemeinschaften. „Für ein längeres Praktikum bin ich dann in die Schweiz in das Ökodorf Sennrüti gegangen.“

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Wahnsinn: „Meine Eltern sagen, dass sie es schön finden, was wir hier machen, aber dass es auch Wahnsinn ist“, sagt Mirja Küster. Das vier Hektar große Gelände umfasst neben den vier Gebäuden, davon zwei denkmalgeschützt, mehrere Wiesen und ein Stück Wald. Im März letzten Jahres hat das Wohnprojekt die geschichtsträchtige Immobilie für 1,5 Millionen Euro gekauft. Monatelang sammelten sie dafür Privatkredite. „Für die zweite Finanzierungsphase suchen wir gerade wieder Direktkredite, damit Café- und Seminarbetrieb entstehen können.“

Rauch steigt aus einem sehr großen alten Haus, dahinter Wald vor Bergen

Das Haupthaus des Wohn- und Kulturprojekts in Kirnhalden Foto: Andree Kaiser

Die Idee: Eigentlich war die Idee, in einer Gemeinschaft zu leben, schon immer da. „Wir haben das schon als Kinder gesagt“, sagt Mirja Küster. Sie und ihr Mann trafen sich über mehrere Jahre regelmäßig mit Bekannten, Freundinnen und Freunden, um sich über ein Zusammenleben auszutauschen. Besonders bewusst wurde Mirja der Wunsch nach Gemeinschaft, als sie allein mit Michel in Bocholt lebte. „Wir waren neu in der Stadt, Michel hat studiert und ich war mit unserem ersten Kind zu Hause. Damals war ich sehr einsam und habe festgestellt, dass ich so nicht leben möchte.“

Gemeinschaft: Für die beiden hat das Leben in einer Gemeinschaft viele Vorteile: im Wechsel macht eine Person die Arbeit für viele, wie etwa Kochen. Besonders ist für sie der soziale Mehrwert: „Wenn jemand fehlt, fällt es einem auf und dann fragt man sich, ob alles in Ordnung ist“, sagt Mirja. Michel ist es besonders wichtig, den Gemeinschaftsgedanken weiterzutragen. „Was ist, was bedeutet Gemeinschaft? Und kann das auch für andere passen? Ich sehe Kirnhalden als Transportmedium für diese Auseinandersetzung.“

Geld: Das Transportmedium ist aber nicht umsonst. „Es sind andere Dimensionen, wenn wir über die Finanzierung sprechen, die sich auf mehrere Millionen beläuft. Dass muss man erst in seinen Kopf kriegen“, sagt Michel. Die Gemeinschaft hat neben einem Verein auch eine Genossenschaft gegründet. Jeder, der in dem Projekt wohnt, zahlt demnach einen Genossenschaftsanteil ein für mindestens 20.000 Euro; viele haben mehr eingezahlt. „Das Gute ist, dass wir einen Refinanzierungsplan haben. Wenn ich das als Einzelperson tragen müsste, würde ich aussteigen.“ Die gewerbliche Vermietung von Räumen, ein Seminarbetrieb und ein Café sollen das Projekt neben den Mieteinnahmen finanziell tragen. In der Gruppe hätten sie eine sehr offene Kommunikation über Geld. Es wird darüber gesprochen, wie viel wer verdiene und wie man gelernt habe, mit Geld umzugehen. „Das schafft Vertrauen“, sagt Mirja. Wer hier wohnt, zahlt eine solidarische Miete, also so viel er oder sie kann, durchschnittlich etwa 450 Euro.

Arbeit: In Kirnhalden bringen sich alle mit ihren Fähigkeiten ein. Von Bauplanung über Finanzierung bis zu Gruppenprozessen gibt es zuständige Teams – die „Utopienverwirklicher:innen“, kurz „UVis“. „Der Begriff kommt von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, an der meine Schwester studierte. Irgendwann hat sich der Arbeitstitel erhalten“, sagt Mirja.

Fähigkeiten: Michel ist Arborist. In Kirnhalden aber Hausmeister, Bauplaner, Buchhalter, Heizungsmonteur, Vorstandsmitglied der Genossenschaft. Ab und zu arbeitet er auch für eine externe Heizungsfirma als Aushilfe. „Ich bin fast 100 Prozent im Projekt, manchmal auch 200.“ Die Arbeit als Baumpfleger vermisse er schon, aber es gebe auf dem Gelände viel Grünfläche zu beplanen. Dass er sich schnell für vieles verantwortlich fühlt und einen Hang zur Detailverliebtheit hat, zeigt sich an seiner Art zu erzählen. Wo Mirja Küster einen Punkt setzt, setzt Michel ein Komma und fährt fort. Mirja arbeitet Vollzeit als Bäckerin im Nachbarort. Im Projekt ist sie im Vorstand, hilft bei der Finanzplanung, kümmert sich mit um Veranstaltungen und Plena.

Prozesse: Eine Arbeitsgruppe setzt sich mit sozialen Themen auseinander und sorgt dafür, dass es für alle die Möglichkeit gibt, Bedenken zu äußern. „Wir achten darauf, dass es an den Plenumswochenenden immer Raum dafür gibt, auch dann, wenn wir merken, es brennt irgendwo“, erklärt Mirja. Ihre zehnjährige Tochter Runa, die sich bisher ruhig an sie lehnte, fragt erschrocken: „Was soll denn brennen, Mama?“

Liebe und Zeit: Ihr Leben als Paar und als Eltern haben Mirja und Michel in Kirnhalden neu ausloten müssen. „Wir mussten lernen, uns gezielt Zeit füreinander zu nehmen“, sagt Michel. Ohne Planung funktioniere das nicht, sagt Mirja. „Und ich muss lernen, auch mal Sachen liegen zu lassen“, ergänzt Michel. „Bei den Kindern dürfen wir auch den Punkt nicht verpassen, sie einzufangen, wenn sie draußen spielen, um noch Zeit als Familie zu verbringen. „Uns einfangen? Uns kann man nicht einfangen!“, ruft Runa dazwischen.

Ein offener Ort: „Als Gruppe stellen wir uns auch der Möglichkeit, dass es nicht funktionieren könnte. Aber es ist ein Stück unseres Idealismus, dass wir uns trotzdem reinstürzen.“ Michel wünscht sich, dass es ein Ort der Begegnung und des Austausches wird. „Kirnhalden braucht das Öffentliche mit Kulturbetrieb und dem Café.“ Als Michel diesen Satz beendet, ruft Thjorben, der Sohn der beiden, durch den Flur: „Es gibt Essen!“.Wenig später platzt er ins Wohnzimmer: „Kommt ihr?!“

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