Bürgerbegehren In Göttingen: Radentscheid auf der Zielgeraden

In Göttingen kommt es immer wieder zu Unfällen zwischen Autos und Radfahrer:innen. Eine Initiative will das ändern. Die Zustimmung ist groß.

Ein Fahrradfahrer fährt im Regen über einer Hauptverkehrsstraße

Fahr­rad­fah­re­r:in­nen sollen sich in Zukunft in Göttingen sicherer fühlen Foto: Carsten Koall/dpa

GÖTTINGEN taz | Sie standen vor Bioläden, Fahrradgeschäften und auf dem Wochenmarkt, sie sammelten bei Schnee und Regenwetter: Mehr als 8.500 Unterschriften für das Bürgerbegehren „Göttinger Radentscheid“ haben Ak­ti­vis­t:in­nen und Sym­pa­thi­san­t:in­nen der Initiative Göttingen Zero in den vergangenen fünf Monaten zusammengetragen.

Deutlich mehr als nötig – 6.813 Ein­woh­ne­r:in­nen hätten unterschreiben müssen, damit sich die Stadt mit dem Begehren und den darin enthaltenen Forderungen nach Verbesserungen für den Radverkehr befasst. Unterschreiben durften alle Menschen mit EU-Staatsbürgerschaft ab 16 Jahren mit Erstwohnsitz in Göttingen.

„Wir erwarten, dass trotz eines Anteils doppelter und ungültiger Unterschriften die erforderliche Zahl deutlich überschritten wird“, erklärten die Initiatoren am Dienstag. Am 12. Februar wollen sie die Unterschriftenlisten an Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) übergeben.

Ergibt auch die Zählung der Verwaltung, dass das notwendige Quorum erreicht wird, muss die Stadt entweder den Forderungen des Begehrens nachkommen. Oder sie ablehnen – dann käme es, vermutlich parallel zur Europawahl am 9. Juni, zu einem Bürgerentscheid.

Genau genommen sind es sogar zwei Bürgerbegehren, die den Göt­tin­ge­r:in­nen zur Unterschrift vorgelegt wurden. Das erste Begehren umfasst allgemeine Maßnahmen, das zweite benennt konkrete Schritte für bestimmte Straßen.

Immer wieder Unfälle

Menschen müssten sich auf dem Fahrrad sicher fühlen, so Göttingen Zero. Das gehe heute nur, wenn Fahrräder und Kraftfahrzeuge auf den Hauptstrecken räumlich getrennt würden. Das Fahren im Mischverkehr sei so unangenehm und gefährlich, dass ältere Menschen nicht das Fahrrad nähmen und Eltern ihren Kindern das Radfahren dort verböten.

Jonas Luckhardt, AG Radentscheid

„Wir möchten die absolute und die gefühlte Sicherheit erhöhen“

Tatsächlich kommt es in Göttingen häufig zu folgenschweren Kollisionen zwischen Autos und Rad­le­r:in­nen, immer wieder auch mit tödlichem Ausgang für Letztgenannte. An mehreren Stellen der Stadt erinnern weiß angemalte Fahrräder an die bei Unfällen ums Leben gekommenen Radler:innen.

Zentrale Forderung im zweiten Begehren sind sogenannte Protected Bike Lanes, also mechanische Barrieren zwischen Fahrrädern und Kfz an Hauptstraßen mit hoher Bedeutung für den Radverkehr.

Solche Barrieren, die es in Göttingen bislang nicht gibt, verhindern, dass Radfahrende von Autos bedrängt werden: „Wenn der Platz dafür nicht ausreicht, müssen diese Straßen für den Autoverkehr als Einbahnstraßen ausgewiesen werden,“ schreibt Göttingen Zero. Zudem soll die Stadt mehr Fahrradstraßen ausweisen und diese attraktiv gestalten.

„Wir plädieren für eine Trennung von Auto, Fahrrad und zu Fuß gehenden auf den Durchgangsstraßen und möchten damit die absolute und die gefühlte Sicherheit erhöhen“, sagt Jonas Luckhardt von der AG Radentscheid. Es sei die gefühlte Sicherheit, die Menschen dazu bewege, sich für Auto oder Fahrrad zu entscheiden.

Die Verwaltung interessiere sich nur für die erfassten Unfallzahlen. Dies blende aus, dass besonders Kinder und ältere Menschen als unsicher empfundene Strecken mieden. Auch die letzten Entscheidungen zu den Fahrbahnsanierungen zeigten, dass wie in den 1970er Jahren nur einseitig der Autoverkehr gefördert werde, „nach wie vor wird kein einziger Radweg saniert“.

Radentscheide in anderen Großstädten

Radentscheide gab es bereits in rund 30 Großstädten. Diese wurden nach Sammlung der Unterschriften entweder für unzulässig erklärt. Oder die Initiatoren bliesen die Bürgerentscheide von sich aus ab und schlossen Vereinbarungen mit den verantwortlichen Stellen. Dabei, so Göttingen Zero, seien oft weniger als zehn Prozent der zunächst geforderten Maßnahmen umgesetzt worden. Deshalb habe man sich bereits im Frühjahr 2023 dafür entschieden, einen für die Stadtverwaltung bindenden Bürgerentscheid anzustreben.

Einen solchen Bürgerentscheid gab es in Göttingen noch nie. Und in einer niedersächsischen Großstadt bislang nur ein einziges Mal. 2019 votierten die Einwohner Osnabrücks für die Bildung einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft.

„Egal wie die beiden Bürgerentscheide am Ende ausgehen – neben unserem Einsatz für den Klimaschutz tragen wir mit dieser Initiative dazu bei, mit fundierter Sachpolitik die Demokratie dort zu stärken, wo die Auswirkungen direkt erfahrbar sind, in unserer eigenen Stadt“, urteilt der Göttinger Physikprofessor Fred Wolf, der Teil von Göttingen Zero ist.

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