Du musst was unterbringen

NOTIZBUCH Albtraum eines Leslie-Fiedler-Schülers

Er hatte einen Albtraum. Ihm war gesagt worden, er solle den Text des Liedes „Berlin“ von Ideal in der „Frankfurter Anthologie“ unterbringen. „Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein / Ich steig aus, gut wieder da zu sein.“ Das sei doch auch Lyrik! Also ging er los und suchte die Grenze, die er zu überschreiten hatte, und die Lücke, die er schließen musste. Aber er fand sie nicht. Was er stattdessen fand, war ein langer Gang, der, je länger er in ihm ging, immer länger wurde. Eine Unmenge von Türen an beiden Seiten. In den Türen Gesichter, die ihn teils anfeuerten, teils beschimpften. Aber von hinten kamen Hände, die die Gesichter wegzerren wollten, und so entspann sich hinter den Türen ein Gerumpel und Gekeife. Eine Laufschrift wie von Jenny Holzer leuchtete auf: „Symbolische Kämpfe sind hart!“, las er. Dann wurde der Boden des Ganges erst matschig, dann auch zäh und klebrig. Außerdem sah er, inzwischen keuchend, ganz am Ende des Ganges ein altes Männlein vorangehen, es murmelte immer wieder „Und alle Fragen offen“ vor sich hin. Von da an stieg der Gang an, erst sanft, dann wurde er steiler und steiler. „Du musst dich an Ideal erinnern!“, „Nein, vergiss Ideal!“, riefen die Gesichter durcheinander, bevor die Hände sie wegzerrten, aber bald war der Gang so steil, dass er sich in den Türrahmen inmitten all der kämpfenden Gesichter und Hände festklammern musste, um sich nur noch Zentimeter für Zentimeter weiter voranziehen zu können. Da drehte das Männlein sich um ...

Er erwachte schweißüberströmt. Panisch fegte er die Bettdecke zur Seite und ging zum Schreibtisch. Dort lag die gerade erschienene 35. Ausgabe der „Frankfurter Anthologie“. Hastig wischte er durch die Seiten. Joachim Sartorius über Jürgen Becker. Michael Lentz über Gottfried Benn. Wulf Segebrecht über Durs Grünbein. Jan Süselbeck, sieh an, über Peter Hacks. Ruth Klüger über Friedrich Hebbel. Peter von Matt über Peter Huchel usw. Aber nichts über Ideal. Er war beruhigt. Fiedler war noch nicht überflüssig geworden. Alles war in bester Ordnung. drk

Marcel Reich-Ranicki (Hg.): „Frankfurter Anthologie, Band 35“. Fischer, Frankfurt a. M. 2012, 318 Seiten, 24,99 Euro