Empörung ohne Folgen

Wir sind in der Ära der „Hyperpolitik“, diagnostiziert der Historiker Anton Jäger

Von Robert Misik

Ganz früher gab es die Massenpolitik, Lagerbildung und große Mitgliederparteien, dann deren Schwundformen, die traditionsgebundenen Volksparteien. Danach die allmähliche Abwendung und die „Politikverdrossenheits“-Diagnose, also die Ära der „Antipolitik“. Dann war die „Postpolitik“, also die ideologische Leere, eine „Posthistorie“, die auch unglücklich machte, nach der man sich aber heute mitunter schon zurücksehnt. Und nun, so lautet der Befund des 29-jährigen belgischen Historikers Anton Jäger, stecken wir in der Ära der „Hyperpolitik“ fest. Diese hat Jäger in mehreren Texten für das Magazin Jacobin ausgebreitet und nun zu einem kleinen Essay ausgebaut. Ein bisschen viel Begriffsscholastik (Post, Anti, Hyper), aber das kann man ja überfliegen.

Während alle Welt gerade noch entideologisiertes Gedränge in der Mitte konstatiert hatte, sind heute viele Gesellschaften in das Gegenteil gekippt. Alles wird politisiert, häufig wird eine „Polarisierung“ beklagt. Welche Sportarten man ansieht, ist heute schon politisch, oder welche Meinung man zu einer Krankheit hat, ob man Thomas Gottschalk mag oder ob man „Ärzte“, „Ärzte und Ärztinnen“ oder „Ärzt:innen“ sagt. Zugleich sind die Menschen „einsamer, aufgeregter, wütender, aber auch verwirrter“.

Die Schlüsselthese der „Hyperpolitik“-Diagnose: Es gibt Politisierung, aber es folgt nichts daraus. „Menschen echauffieren sich heute über ein Thema und morgen über ein ganz anderes.“ Politischer Aktivismus ist oft nur Meinungskampf in den verschiedenen Foren öffentlichen Geredes. Starke Meinungen, die man zu einem Thema hat, sind selten rückgebunden an milieuüberspannendes Langfrist-Engagement. Oft verliert sich „Engagement“ in das Verkündigen der eigenen Ansichten in den digitalen Agoras. Die These gibt dem Bändchen den Untertitel: „Extreme Politisierung ohne politische Folgen.“

Menschen verlernen nicht nur, sich zusammenzutun, sie vereinsamen. Jäger verweist auf amerikanische Diagnosen einer regelrechten „Freundschaftsrezession“.

Anton Jäger: „Hyperpolitik“. Aus dem Englischen von Daniela Janser und Thomas Zimmermann. Suhrkamp, Berlin 2023, 136 Seiten, 36 Euro

Auch der wirkmächtigere Aktivismus geschieht oft nicht mehr in Parteiorganisationen, sondern in Thinktanks, Stiftungen, NGOs mit einem schlanken Apparat und Stäben professioneller Angestellter. Der Rest erregt sich bisweilen, bringt es aber nur zu „flüchtigen, episodischen und themengebundenen Instant-Denkweisen“.

Heute ist man der Meinung, dass entschieden gehandelt gehört, morgen, dass sowieso alles umsonst sei. Aus dieser Falle, so Jäger, führt nur echte Politik. Etwa in Basisorganisationen von Parteien, in denen man mit anderen dafür sorgt, dass ein paar Dinge besser werden und Menschen gemeinschaftliche Wirksamkeit erfahren. Jägers Modell: die Sozialisten des Roten Wien.