Proteststreik in Argentinien: Erster Widerstand gegen Milei

Ein Generalstreik der größten Gewerkschaften gegen das Schockprogramm des neuen Präsidenten Javier Milei legt Teile Argentiniens für 12 Stunden lahm.

Mehrere Männer und Frauen bei einer Demonstration

Protest vor dem Kongressgebäude in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires am Mittwoch Foto: Rodrigo Abd/ap

BUENOS AIRES taz | Trommelwirbel und knallendes Feuerwerk. Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei war gerade 45 Tage im Amt, als er am Mittwoch den ersten Generalstreik gegen seine Politik erlebte. Dazu aufgerufen hatte der Gewerkschaftsdachverband CGT. Der Höhepunkt des 12-stündigen Ausstands war ein Protestmarsch zum Kongressgebäude im Zentrum der Hauptstadt Buenos Aires, an dem auch soziale Basisorganisationen, kleine linke Parteien und die peronistische Opposition teilnahmen.

Die Stimmung vor dem Kongress ist aufgeheizt bis aggressiv, nicht nur wegen der hochsommerlichen Temperaturen. „Mein Gehalt ist schon jetzt nur noch die Hälfte wert“, schreit Grundschullehrerin Gladys Aarón einer jungen Frau ins Gesicht, die sich lautstark darüber beschwert, dass sie wegen des Protestmarsches zu spät zur Arbeit kommt. Mehrfach kommt es zu solch heftigen Wortgefechten und Beleidigungen zwischen Passanten und Protestierenden, die auch in Handgreiflichkeiten münden.

„Viele Menschen hier haben für Milei gestimmt, weil er ihnen versprochen hat, dass die politische Kaste die Kosten tragen wird“, sagt Hernán Braco, der als Krankenpfleger in der Hauptstadt arbeitet. „Jetzt sind sie frustriert, weil sie merken, dass sie selber zahlen müssen.“ Für viele ist dies das erste Mal, dass sie ihre Wut und Enttäuschung öffentlich zum Ausdruck bringen.

Inflation und Kaufkraftverlust gehen am Río de la Plata schon lange Hand in Hand. Offiziellen Zahlen zufolge sanken die Reallöhne im formellen Sektor in den vier Jahren des konservativen Präsidenten Mauricio Macri (2015-2019) um 21 Prozent und in der Amtszeit des gemäßigt-linken Alberto Fernández (2019-2023) um 6 Prozent. In nur einem Monat Milei sind die Reallöhne um 13 Prozent eingebrochen.

Eiltempo bei Mileis Schockprogramm

Der Protestmarsch verläuft friedlich, abgesehen von ein paar kleinen Rangeleien mit den Uniformierten. Statt Tränengas wabern die Rauchschwaden der zahlreichen ambulanten Grillstände durch die Straßen und machen Lust auf ein Choripán. Am Ende des Tages liegen die Teilnehmendenzahlen der Gewerkschaften und der Regierung so weit auseinander wie ihre ideologischen Positionen.

Während die CGT in der Hauptstadt 600.000 und landesweit insgesamt 1,5 Millionen auf den Straßen und Plätzen zählt, gibt das Sicherheitsministerium die Zahl für die Hauptstadt mit 40.000 Teilnehmenden an. Fakt ist, dass sich der Widerstand erst allmählich formiert, zumal sich das Land im Urlaubsmodus befindet.

Mit Ausmaß und Tempo seines Vorgehens hatte Milei für einen Überraschungseffekt nach dem anderen gesorgt. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt am 10. Dezember ordnete er eine 55-prozentige Abwertung des Peso gegenüber dem Dollar an. Nur eine Woche später erließ er ein Dekret mit über 350 Deregulierungsmaßnahmen, darunter auch Änderungen des Arbeitsrechts. Entlassungen werden erleichtert, Abfindungen gekürzt und das Streikrecht eingeschränkt.

Und wiederum nur eine Woche später legte er dem Kongress ein 664 Artikel umfassendes Mega-Gesetz vor, das neben umfangreichen Privatisierungs-, Wirtschafts-, Wahl-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen auch eine weitreichende Umstrukturierung der staatlichen Verwaltung vorsieht. Und es würde dem Präsidenten Sondervollmachten bis zum Ende seiner vierjährigen Amtszeit einräumen. All dies, so Milei, um das Haushaltsdefizit zu reduzieren und die Inflation langfristig zu senken.

Milei ringt um parlamentarische Mehrheiten

„Der Präsident sagt, dass sein Wirtschaftsminister wegen der ergriffenen Maßnahmen auf den Schultern getragen werden müsse“, sagt Pablo Moyano, Chef der mächtigen Transportarbeitergewerkschaft, auf der Bühne vor dem Kongressgebäude. „Ich sage, wenn er diese Sparmaßnahmen wirklich umsetzt, werden ihn die Arbeiter und Rentner tatsächlich auf den Schultern tragen, aber um ihn in den Riachuelo-Fluss zu werfen.“

Das Dekret ist in Kraft, solange es nicht von beiden Kammern des Kongresses abgelehnt wird. Nur die Änderungen des Arbeitsrechts liegen wegen einer von den Gewerkschaften erwirkten einstweiligen Verfügung auf Eis. Anders verhält es sich mit dem Mega-Gesetz, das mit der Zustimmung des Parlamentsausschusses gerade die erste Hürde genommen hat. In einer um über 100 Artikel abgespeckten und veränderten Form soll darüber schon in der kommenden Woche im Abgeordnetenhaus abgestimmt werden.

Die parlamentarische Machtbasis des Präsidenten ist äußerst begrenzt. Im Kongress verfügt er über weniger als 10 Prozent der Senatsmandate und nur 15 Prozent der Mandate im Abgeordnetenhaus. Milei ist auf die Stimmen der rechts-liberalen und rechts-gemäßigten Opposition angewiesen. Und während er öffentlich vehement ein Alles-oder-Nichts fordert, wird in Hinterzimmern kräftig verhandelt.

Privilegien der Gewerkschaften im Visier

Den Gewerkschaften ist vor allem das Dekret ein Dorn im Auge, das die ökonomische Macht der Arbeitnehmerorganisationen schwächen soll. Argentiniens Gewerkschaften finanzieren sich nicht nur über die Beiträge der Mitglieder. Beschäftigten, die nicht Mitglied einer Gewerkschaft sind, wird ein sogenannter Solidaritätsbeitrag vom Lohn abgezogen und an die jeweils für die Branche zuständige Gewerkschaft überwiesen. Höhe und Laufzeit dieser Solidaritätsbeiträge werden in den ausgehandelten Tarifverträgen stets neu festgelegt, um nicht als Zwangsabgabe zu gelten.

Und die Gewerkschaften verfügen über milliardenschwere Fonds, seit ihnen Militärdiktator Juan Carlos Onganías (1966-1970) das Recht eingeräumte, eigene Sozialwerke wie etwa Krankenkassen einzurichten. Seither müssen die Beiträge aller formell Beschäftigten über einen gewerkschaftseigenen Sozialversicherungsträger abgewickelt werden. Der behält entweder den gesamten Beitrag ein oder, wenn der Beschäftigte bei einem anderen Versicherer versichert ist, einen nicht geringen Anteil. Der Wechsel zu einer Krankenkasse eigener Wahl ist nicht verboten, scheitert aber meist an den bürokratischen Hürden der Gewerkschaften.

Mileis Dekret macht mit beidem Schluss. Der Solidaritätsbeitrag soll abgeschafft werden, die Beschäftigten sollen ihre Krankenkasse frei wählen können und die Beiträge ohne Abzug überwiesen werden. Die Gewerkschaften befürchten einen deutlichen Rückgang der Beitragszahlungen. Gut verdienende Mitglieder könnten in die teureren privaten Krankenkassen wechseln, während die Geringverdiener in den Gewerkschaftskassen verbleiben.

Aber nicht nur das. Die Gewerkschaften sind längst zu Großunternehmen im Gesundheitsbereich und Eigentümer großer Gesundheitseinrichtungen geworden. Die damit einhergehende Vettern- und Amigowirtschaft erklärt, warum manche Gewerkschaftsbosse seit Jahrzehnten im Amt sind oder ihre Nachfolge innerfamiliär geregelt wird, wie etwa im Fall der Transportarbeitergewerkschaft der Moyano-Familie. Eine einvernehmliche Lösung dieses Konflikts ist schwer vorstellbar.

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