Haßloch für die Konsumforschung: Voll der Durchschnitt

In Haßloch testeten Konzerne jahrelang ihre Produkte. Jetzt ersetzt künstliche Intelligenz das „Durchschnitts-Dorf“. Kratzt das an der Identität?

Straße in Hassloch

Absolute Durchschnittlichkeit: eine Ortsansicht von Haßloch, Deutschlands Durchschnittsgemeinde Foto: Hans-Bernhard Huber/laif

HAßLOCH taz | Wo ist er denn, der Max Mustermann? In den sich in verblüffender Gleichförmigkeit erstreckenden Straßenzügen von geschlossenen Rollläden und zugezogenen Vorhängen bleibt er unentdeckt. Auch zwischen den „Schneider“- und „Müller“-Klingelschildern, den Campervans und den doch arg vielen Deutschlandflaggen lässt er sich nicht blicken. Dabei müsste er doch gerade hier zu Hause sein, der Max, in der Durchschnittsgemeinde Deutschlands: in Haßloch in der Pfalz.

Haßloch gilt als Mini-Deutschland. Die Bevölkerungsstruktur der rund 20.000 Ein­woh­ne­r*in­nen kommt dem deutschen Durchschnitt sehr nahe. Das Mengenverhältnis von Kindern, Rent­ne­r*in­nen und Familien, einkommensschwachen und -starken Haushalten sowie die örtliche Handelslandschaft ist repräsentativ für das ganze Land. Eine Art Playmobil-Deutschland.

„Haßloch …“, sagt Julien Niemann und lacht, „schon ein krasser Name, ’ne?“ Seine Schwester Mara und er (beide Namen geändert) nennen es liebevoll „hatehole“. Durchschnittshölle Deutschland. Julien ist knapp 1,85 groß, dunkelhäutig, hat braune Augen und Haare. Maras geflochtenes Haar reicht ihr bis zur Hüfte. Die Geschwister sind in Haßloch aufgewachsen.

Der Ortskern des Großdorfs besteht aus Dorfkirche, Post und Rathaus. Jeden vierten Mittwoch im Monat werden die Se­nio­r*in­nen zu „gemütlichem Beisammensein bei Kaffee und Kuchen“ in die Bürgerstiftung geladen. Bis auf die Rent­ne­r*in­nen sind die Straßen jedoch leer gefegt. Der Eindruck, dass in Haßloch „immer was los“ sei, wie es auf der Gemeindeseite heißt, entsteht an einem Dienstagmittag nicht.

Das Dorf erscheint verlassen

Der Uhrmacher: geschlossen. Die Metzgerei: geschlossen. Das Burger-Restaurant: geschlossen. Auf Anfrage der taz beim Bürgerbüro heißt es wiederum Freitagmittag um 12 Uhr, man solle es doch Montag wieder probieren. „Freitags arbeiten wir nicht so lang.“ Hier ist man der Viertagewoche wohl schon näher als in der Hauptstadt.

Vorreiter war Haßloch schon immer. Von 1986 bis 2021 diente das Dorf als Testmarkt für das Nürnberger Marktforschungsinstitut Growth from Knowledge (GfK), ehemals Gesellschaft für Konsumforschung. Nach dem amerikanischen Vorbild der „Magic Towns“, wie die Durchschnittsorte heißen, wurden hier neue Produkte von Marken wie Coca-Cola, Procter & Gamble oder Wrigley getestet. Kauften die Haß­lo­che­r*in­nen ein Produkt, kam es auch im Rest des Landes in die Supermarktregale. Untersucht wurde dabei auch mithilfe von Fernsehboxen die Wirksamkeit der Fernsehwerbung.

Mit den Tests sollte der Erfolg eines Produkts erforscht werden, bevor teure Werbung geschaltet und die Produkte massenhaft hergestellt wurden. Berichte im Internet besagen, dass die Erfahrungen, die die GfK hier machte, zu 90 Prozent mit den späteren Marktdaten übereinstimmten. Überprüft werden kann das nicht.

Auf Anfrage der taz bei der GfK heißt es, man beantworte keine Anfragen zum bereits abgeschlossenen Testmarkt in Haßloch.

Von den rund 10.000 Haßlocher Haushalten nahmen an den Forschungen rund 3.000 freiwillig teil. Auch Juliens und Maras Vater. Dass ein Produkt ein Testprodukt war, erfuhren die Lan­des­vor­ver­kos­te­r*in­nen erst dann, wenn es wieder aus den Regalen verschwand oder sie von Bekannten aus anderen Städten darauf hingewiesen wurden.

Datenvergabe gegen Prämienpunkte

Belohnt wurden sie mit kostenlosen Programmzeitschriften, einem Zuschuss von 3,85 Euro zu den Kabelgebühren und Prämienpunkten im Supermarkt. Im Gegenzug mussten sie nur ihre Daten preisgeben, die Gold wert waren. „Ständig haben die mir Briefe geschickt und ich musste alles mögliche ausfüllen: Habe ich einen Kühlschrank? Habe ich keinen? Was weiß ich, was die alles wissen wollten“, erzählt eine grauhaarige Frau, die mit ihrem Mann die Straße am Rathaus entlang­spaziert.

So ging das 35 Jahre lang. Und dann das plötzliche Ende im Dezember 2021. Man setze jetzt auf digitale Lösungen, hieß es aus Nürnberg. Auch in der „Innovationsnation“ Deutschland sollten schließlich die alten Plastikkarten und Fernsehboxen durch dezentrales Echtzeittracking per künstlicher Intelligenz ersetzt werde.

Von einem Tag auf den anderen verpufft

Die GfK nutze nun eine KI-basierte Plattform, die Kun­d*in­nen in Echtzeit Fragen wie „Wer hat gekauft und warum?“ und „Was muss ich als nächstes tun, um mein Geschäft nachhaltig wachsen zu sehen“ beantworte, sagt Sprecherin Eva Böhm. Der Grund: Kun­d*in­nen benötigten „gerade in der heutigen schnelllebigen und volatilen Welt“ möglichst in Echtzeit relevante, verlässliche Daten und konkrete Handlungsempfehlungen, um schnell auf sich verändernde Märkte und Kon­su­men­t*in­nen­be­dürf­nis­se reagieren zu können, sagt sie.

Das letzte Überbleibsel der Nürnberger in Haßloch: ein harmlos erscheinendes oranges GfK-Schild neben der Spielothek Doc Holiday. Alles andere: von einem Tag auf den anderen verpufft. Als wären die Konsumforscher nie da gewesen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Was macht das mit einem Ort, wenn eine über 35 Jahre sorgsam konstruierte Scheinwelt von einem Tag auf den anderen zerplatzt? Wenn man plötzlich nicht mehr relevant ist, nicht mehr zeitgemäß, nicht mal mehr Durchschnitt! Identitätskrise? Bedeutungsverlust? Lähmung?

„Für Haßloch war das kein großes Thema“, sagt Bürgermeister Tobias Meyer (CDU). Die Einschätzung des Bürgermeisters teilt die Edeka-Kassiererin: „Das war einfach so. War schon immer so. Man hat da nicht so ein Ding draus gemacht.“ Das Versuchsende sei alles andere als ein Schlag für das Dorf gewesen, erzählt auch eine Frau in grüner Daunenjacke vor dem Drogeriemarkt: „Das war nervig, die Karte immer mitzuschleppen, der Receiver ist ständig kaputtgegangen.“ Dann war’s vorbei, aber „da wurde kein großes Tamtam draus gemacht“.

Desinteresse an den Marktforschungstests

Während die Tests liefen, hätten sich die Leute dafür interessiert, erzählt ein älterer Herr in orangem Pullover. „Aber jetzt, wo die vorbei sind, ist es allen egal.“ Das können die stark geschminkten Teenagerinnen im Edeka nur bestätigen.

Identitätskrise? Fehlanzeige. Mit dem Durchschnittsdasein hat man sich wohl nie identifiziert. Die anderen hätten immer mehr daraus gemacht als die Haßlocher*innen, erzählt Mara. „Ich wurde immer wieder darauf angesprochen, aber für mich war das nicht so besonders, weil es mir einfach egal war.“ Dabei könnte man doch stolz sein auf die Rolle der Landesvorkoster*innen!

Gefreut hat man sich hier wohl mehr über die Vorteile, die damit einhergingen. Sie scheinem genügt zu haben, damit sich die Bür­ge­r*in­nen 35 Jahre in den Kühlschrank leuchten ließen. Mara sagt zwar, sie wisse von ihrem Vater, dass damals viele Ein­woh­ne­r*in­nen „sehr krass“ auch gegen den Datenverkauf gewesen seien, die Frau in der grünen Jacke hingegen findet, man solle sich nicht so haben: „Das ist ja nicht wie heute mit dem Datenschutz und dem ganzen Scheiß.“ Auch der Mann im orangen Pullover sagt, er habe nichts zu verheimlichen. Es ginge ja nicht um Daten, lediglich um Statistiken.

Es gibt nicht mehr den Durchschnittsdeutschen

Das Maß an Gleichgültigkeit spricht nicht gerade für die Durchschnittsdeutschen, ist allerdings wohl wiederum repräsentativ. Denn nicht nur die Haß­lo­che­r*in­nen verschenken bereitwillig ihre Daten, sondern ganz Deutschland. Nur deshalb kann die GfK nun überhaupt Plastikkarte und Fernsehbox gegen eine KI-basierte Plattform ersetzen, die den Kun­d*in­nen Kon­su­men­t*in­nen­da­ten in Echtzeit liefert. Die Idee eines Durchschnittsdeutschen ist damit wohl überkommen. Haßloch, es ist aus.

Dass Haßloch nicht mehr am Zahn der Zeit ist, findet nicht nur die GfK. „Hier sind nur Rentner“, sagt Julien. Und tatsächlich: Mit rund 24 Prozent über 65-Jährigen wohnen in Haßloch mittlerweile überdurchschnittlich viele Rentner*innen. Es gebe drei Altersheime, die alle voll seien. Die Alten fänden alles Neue schlimm. „Seit neuestem gibt es hier E-Scooter. Ich finde das super, aber die Rentner sind natürlich dagegen.“

Viele Junge würden wegziehen, erzählt Julien. Hier sei nicht viel los, die Job- und Verdienstchancen seien unattraktiv. Die händeringende Suche nach Fachkräften begegnet einem in jedem Schaufenster, in das man blickt: Die Spielothek sucht eine Reinigungskraft, der Bäcker Ver­käu­fe­r*in­nen, der Supermarkt neue Mitarbeiter*innen. Durchschnittsdeutschland eben.

Obwohl hier nicht viel los sei, gefalle es ihm, sagt Julien. Der Ort sei „nicht zu groß, nicht zu klein“, optimal, um Kinder großzuziehen, und es gebe eine gute Anbindung nach Mannheim. „Ich bin stolzer Haßlocher.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.