Schule im Brennpunkt: Mahmouds Startchancen

Die Ampel feiert den Durchbruch für mehr Bildungsgleichheit. Ein Lehrer kennt die Probleme. Er schreibt, wie eine gute Schule aussähe:

Schüler steigen in Berlin auf dem Weg zur Schule in einen schon überfüllten Bus

Schnell rein da, um ja nicht zu spät zu kommen! Schü­le­r:in­nen steigen in einen Bus am Hermannplatz in Berlin-Neukölln Foto: Jürgen Held/imago

BERLIN taz | Mahmoud ist zu Beginn dieser Geschichte 13 Jahre alt und geht in die 7. Klasse einer Gemeinschaftsschule in Neukölln. Er ist in Berlin geboren, allerdings besitzt er lediglich einen Duldungsstatus, genau wie der Rest seiner Familie, die vor 16 Jahren aus dem Libanon nach Deutschland geflohen ist. Mahmoud hat fünf Geschwister, er ist das dritte Kind der Familie. Sie wohnt in einer 85-Quadratmeter-Wohnung auf der Sonnenallee, einer der lautesten Straßen der Stadt.

Mahmoud teilt sich ein Zimmer mit seinen drei Brüdern. Zum Lernen oder für Hausaufgaben findet er zu Hause weder Platz noch Ruhe. Eines Tages ist er auf Klassenfahrt in Stralsund. Ein Passant ruft ihm hinterher, er solle sich in „sein Land verpissen“. Als ich mit ihm darüber spreche, erschreckt mich, dass er mir sagt: „Herr Nolte, das ist doch normal.“ Mahmoud ist eine fiktive Figur, die sich aber aus typischen Erfahrungen mit Schülerinnen und Schülern meiner ehemaligen Klasse zusammensetzt.

Gerade haben die 16 Kultusministerinnen und Kultusminister einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zugestimmt, dem sogenannten Startchancen-Programm. Es sei das „größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“, betont Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und ein „Aufstiegsversprechen“.

Das ominöse „Aufstiegsversprechen“ im deutschen Bildungssystem einzulösen, ist ein großes Vorhaben, bedenkt man, dass diverse Studien es seit Jahrzehnten für mausetot erklären. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, wie stark der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland ist. Und wie sehr es zur Ballung dieser Problemlage an Schulen in bestimmten Sozialräumen kommt, den sogenannten Brennpunktschulen. Nun sollen 4.000 dieser Schulen vom Startchancen-Programm profitieren.

Modaladverbiale bestimmen die Zukunft eines Kindes

Mit 16 schafft Mahmoud in der 10. Klasse seinen Mittleren Schulabschluss mit der Note 3,1. Er hat eine Fünf in Mathe, eine Vier in Deutsch und eine Drei in Englisch. In Deutsch fehlen ihm drei Punkte für eine Drei. In der Prüfung verwechselt er Kausal- und Modaladverbiale und versteht eine Aufgabe nicht, in der er einen Satz aus Umgangs- in Standardsprache übersetzen soll. Am Oberstufenzentrum, an dem er danach sein Abitur machen will, hat er Schwierigkeiten mit seinem neuen Klassenlehrer. Irgendwann geht er einfach nicht mehr hin.

Das Startchancen-Programm ist das zentrale Bildungsversprechen der Ampelkoalition. 4.000 Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten sollen zehn Jahre lang finanziell und personell unterstützt werden. Starten soll es zum Schuljahr 2024/25. Pro Jahr stehen zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Erstmals wird bei einem Bund-Länder-Programm ein Teil der Mittel nach sozialen Kriterien verteilt. Anfang Februar wurden letzte Details vereinbart. (taz)

Bevor er mit 13 auf unsere Schule wechselte, lag sein Notenschnitt bei 3,8. Dazu haben wir eine Akte bekommen, deren Dicke auf die Menge der Probleme aus seiner bisherigen Schullaufbahn hindeutet. In der Grundschule war er oft in Streitigkeiten verwickelt gewesen, Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen hatten wenig Wirkung gezeigt.

Seine Klassenlehrerin beschrieb ihn im Übergabegespräch als „sehr schwierig“. Persönlich erlebte ich ihn oft als aufbrausend, ungeduldig, direkt, aber auch als schlagfertig und sehr neugierig, vor allem bei politischen und gesellschaftlichen Themen. Für Mahmoud war es selbstverständlich, seine zwei kleinen Geschwister zur Kita zu bringen und nach der Schule wieder abzuholen. Häufig kam er deswegen morgens zu spät.

Als Mahmoud 10 war, hatte sich seine Mutter von seinem Vater getrennt. Es wurde nie eindeutig ausgesprochen, aber es gibt viele Hinweise darauf, dass der Grund dessen Gewalttätigkeit war. Seine Mutter brachte die fünf kleinen Kinder seitdem alleine durch, indem sie bei drei unterschiedlichen Firmen putzen ging. Für die Kinder blieb wenig Zeit, aber sie war bei jedem Elterngespräch und man merkte, wie sehr sie sich bemühte, dass Mahmoud die Erwartungen der Schule erfüllte.

Schulweg: 1 Stunde

Da sie nicht gut Deutsch sprach, musste Mahmoud immer wieder übersetzen, wenn Termine bei Ämtern anstanden. Auch das Kündigungsschreiben der Hausverwaltung für ihre Wohnung übersetzte er ihr und brachte es am nächsten Tag mit in die Schule. Er fragte, ob die das dürften. In der 9. Klasse zog Mahmoud mit seiner Familie von Neukölln nach Marzahn. Er blieb auf unserer Schule und hatte fortan einen Schulweg von einer Stunde.

Jugendlichen wie Mahmoud haben SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag versprochen, „Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen zu bieten“. Ein Instrument hierfür soll das Startchancen-Programm sein. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn zweifelhaft ist, ob das zur Verfügung gestellte Geld ausreicht. Was aber fehlt, ist ein tieferes Verständnis, wie komplex und facettenreich das Problem der Bildungsungerechtigkeit ist. Und wie ungerecht die Selektion durch die Schulen ist, die wie eine Jury darüber bestimmen, welche Lebenschancen ein junger Mensch erhält.

Die spannende Frage wird sein, wie es den einzelnen Schulen gelingt, mit dem Geld ernsthaft Einfluss auf die Bildung all der Mahmouds in diesem Land zu nehmen. Wer Bildungsgerechtigkeit will, muss massiv in frühkindliche Förderung und Grundschulen investieren. Denn das sind die Orte, an denen noch alle Kinder zusammen lernen und an denen frühzeitig und präventiv Benachteiligungen ausgeglichen werden können.

Wer es ernst meint mit der Gerechtigkeit, muss auch weiterführende Schulen mit Förderangeboten sowie ruhigen Arbeitsplätzen ausstatten, über die benachteiligte Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule nicht verfügen. Wir brauchen eine Schule, die nicht selektiert, sondern willkommen heißt.

Manche Kinder sollten in der Schule bevorzugt werden

Eine Schule, die richtig gut ausgestattet ist. Die modern ist, sowohl was das Gebäude als auch was den Unterricht angeht. Die Schülerinnen und Schüler wie Mahmoud besonders gut unterstützt, ja ihn sogar bevorzugt behandelt. Die Idee einer Bevorzugung lässt zunächst vielleicht stutzen, ist aber eine rein logische, ja zwingende Schlussfolgerung: Werden Kinder außerhalb der Schule massiv benachteiligt, müssen sie innerhalb der Institution massiv bevorteilt werden. Nur so entsteht hinsichtlich ihrer Chancen wieder eine Balance.

Allzu oft tun wir so, als kämen alle Schülerinnen und Schüler morgens mit dem Taxi aus dem Wellnesshotel angefahren

Damit das gelingt, muss sich der pädagogische und institutionelle Blick auf benachteiligte Schülerinnen und Schüler ändern. Der Bildungsforscher Aladin El Mafaalani schreibt in seinem Buch „Mythos Bildung“ davon, dass es gute Gründe für die Annahme gebe, scheinbar durchschnittliche Schülerinnen und Schüler wie Mahmoud verfügten eigentlich über ein überdurchschnittliches Potenzial. Schließlich bewerkstelligen sie all die Anforderungen, die in ihrer Bildungsbiografie an sie gestellt wurden, trotz der oft extrem schwierigen familiären und sozialen Rahmenbedingungen.

Das Problem ist, dass wir in der Schule bis heute allzu oft so tun, als kämen alle Schülerinnen und Schüler morgens mit dem Taxi aus dem Wellnesshotel angefahren und hätten mental nichts anderes zu verarbeiten als binomische Formeln, Fotosynthese, die Französische Revolution oder eben den Unterschied zwischen Kausal- und Modaladverbialen. Genau diesen bildungsbürgerlichen Wissensbestand prüfen wir am Ende ab und verteilen daraufhin Lebenschancen-Zertifikate an diejenigen, die ihn besonders gut reproduzieren können.

Für mehr Chancengerechtigkeit braucht es das genaue Gegenteil: Nicht die Kinder und Jugendlichen sollten sich in die Bedürfnisse des Systems Schule einfügen, sondern das System Schule muss sich an deren Bedürfnissen, Interessen und Ressourcen orientieren. Das setzt voraus, dass wir bildungsbenachteiligte Schülerinnen und Schüler nicht als Problem ansehen, sondern all die versteckten Leistungen und Ressourcen wertschätzen.

Rap statt Goethe analysieren

Das setzt auch voraus, dass wir bürgerliche Bildungsnormen hinterfragen. Das kann konkret bedeuten: Rap im Deutschunterricht als Zugang zu Lyrik – zum Beispiel mal die Songtexte des deutsch-sudanesischen Rappers OG Keemo statt nur Goethe und Eichendorff zu besprechen. Unterricht zu Fragen, die für die Identität von vielen wichtig sind: Nahostkonflikt, Diskriminierung, Rassismus, Religion, Geschlechterrollen. Aber auch zu Verschwörungstheorien, dem Einfluss sozialer Medien, Fake News. Unterricht also, der an die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen wie Mahmoud anknüpft und gezielt darauf reagiert.

Auch die Struktur des Schultages, den Schülerinnen und Schüler wie Mahmoud durchlaufen, muss sich verändern. Stellen wir uns etwa einen idealen Schultag im Leben seiner kleinen Schwester Tasnim vor, die in drei Jahren auf die weiterführende Schule wechseln wird. Ihr Tag beginnt um 8.30 Uhr mit einem gemeinsamen Frühstück, das von der Schule gestellt wird. Es endet mit einem „Check-In“, bei dem alle gemeinsam reflektieren, wie sie sich fühlen, welche Ziele sie sich für den Tag setzen und was sie brauchen, um diese zu erreichen.

In der ersten Stunde ist jeden Tag freie Lesezeit mit Büchern und Texten, die an den Interessen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet sind. In der zweiten Stunde hat Tasnim Mathe-Förderung mit zwei Mitschülern. In der dritten und vierten Stunde ist Projektunterricht.

Am Dienstag und Donnerstag geht es um den Konflikt zwischen Israel und Palästina, für den sich Tasnim aufgrund ihrer Familiengeschichte sehr interessiert. Während des Unterrichts wird sie von der Sozialarbeiterin für eine halbe Stunde aus dem Raum geholt, um einen Streit mit Mina und Dilan vom Vortag zeitnah zu besprechen und beizulegen. Danach ist große Pause, sodass Tasnim sich ein wenig erholen und in einem der vier Entspannungsräume Musik hören kann.

So könnte selbst Physik ein angenehmes Fach sein

In der fünften Stunde hat sie Physik, ein Fach, das ihr schwerfällt. Die Lehrerin geht mit der Klasse, die aus 15 Kindern besteht, nach draußen, um mit Lupen zu erproben, was ein Brennpunkt ist. In der sechsten Stunde hat Tasnim Arabisch. Das macht ihr besonders Spaß, nicht nur weil sie sich ihre Muttersprache als zweite Fremdsprache anrechnen lassen kann, sondern auch, weil sie stolz darauf ist, dadurch das Schreiben und die Grammatik ihrer Muttersprache zu beherrschen.

In der zweiten großen Pause gibt es viele Bewegungsangebote, Tasnim geht zum Kickboxen. Der letzte Block besteht wieder aus interessengeleiteten Lernangeboten, die auf Partizipation und Empowerment ausgelegt sind. In ihrem Projekt Climate Justice produzieren die Kinder einen Beitrag für das Schulradio. Darin geht es um die Auswirkungen des Klimawandels auf den Libanon.

Den Abschluss des Tages bildet der „Check-Out“ mit einer der vier Schulpsychologinnen, die zusammen mit Tasnim ihren Tag reflektieren. Als sie nach Hause kommt, erzählt sie Mahmoud von ihrem Tag.

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, 39 Jahre, ist seit zehn Jahren Lehrer. Er engagiert sich bei „Related“, einer Initiative, die sich für Bildungsgerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft einsetzt.

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