Klasse und Minimalismus: Ich habe noch einen Koffer in Wien

Wo ich herkomme, schmeißt man Sachen nicht einfach weg. Wo ich heute lebe, gilt: Weniger ist mehr. Deshalb stellt mich eine Nachricht vor Probleme.

Ein alter Koffer

Der verstaubte Koffer erinnert mich daran, dass ich gegangen bin Foto: Micha Klootwijk/imago

Ein alter Freund hat mir eine Nachricht aus meiner früheren Heimat Wien geschickt. Angehängt hat er ein kurzes Video aus seinem Keller, in dem er einen verstaubten Koffer öffnet und darin herumkramt. Ich brauche kurz, um zu verstehen, warum er mir ein komisches Video aus seinem Keller schickt statt eines vom Donaukanal, wo wir früher heiße Sommerabende verbracht haben, oder aus dem schönen Augarten.

Dann hält er ein Poster in die Kamera, das ich kenne, befreit Playstation-Spiele aus einem Haufen mit Stadtplänen und Reiseführern, eine alte Digicam ist da noch und ein Fotoalbum. Das sollte für einen Eindruck reichen, sagt mein Freund amüsiert und fügt freundlich, aber bestimmt hinzu, dass ich ihn doch wissen lassen solle, was ich „mit dem guten Stück“ vorhabe, das ich nach dem Studium bei ihm gelagert und offenbar völlig vergessen hatte.

Was, wenn er den Koffer einfach wegwirft!?, ist mein erster, panischer Gedanke.

Wäre auch nicht so schlimm, ist doch fast nur Müll, ist der beruhigende zweite.

Nicht schlimm? Fast nur Müll? Dein Ernst!?, der empörte dritte.

Da, wo ich herkomme, schmeißt man Sachen nämlich nicht einfach weg. Über das Wegschmeißen kann man nachdenken, aber nur dann, wenn zukünftige Verwendungsmöglichkeiten sorgfältig geprüft und ausgeschlossen wurden. Vielleicht werden alte Digitalkameras ja irgendwann mal so cool wie alte Analogkameras heute? Vielleicht wollen Menschen irgendwann alte Playstation-Spiele zocken?

Wie das Menschen eben tun, wo ich heute lebe

Wer weiß das schon? Und wer weiß, was die Sachen dann wert sind? Heute lebe ich aber nicht mehr da, wo ich herkomme. Der verstaubte Koffer erinnert mich daran, dass ich gegangen bin. Wo ich heute lebe, glauben die Menschen nicht mehr an Gott oder materiellen Wohlstand durch harte Arbeit, sondern an: Weniger ist mehr. Sie schauen „Aufräumen mit Marie Kondo“ und empfinden große Befriedigung, wenn Sachen weggeschmissen werden. Sie zitieren „Haben oder Sein“ von Erich Fromm und beschenken einander aus konsumkritischen Gründen nicht mehr. Sie wohnen in leeren Wohnzimmern und finden blanke, sterile Wände schön.

Weil mich der verstaubte Koffer vor Schwierigkeiten stellt, gehe ich spazieren, um nachzudenken. Ich höre dabei einen klugen, tiefsinnigen, über das Leben reflektierenden Podcast, wie das Menschen eben tun, wo ich heute lebe. „Eigentlich ist das Zuviel von Sachen für niemanden gut“, höre ich den Regisseur Wim Wenders mit seiner angenehm sanften Stimme sagen. Es geht um seinen Film „Perfect Days“ über einen minimalistisch lebenden, die öffentlichen Toiletten von Tokio reinigenden und sehr zufriedenen Mann.

Ich kehre mit großer Entschlos­senheit in meine Wohnung zurück, in der die Wände blank und die Räume luftig sind und das Alte zurückgedrängt ist auf eine Ecke auf dem Schreibtisch, in der sich Zeitschriften und Bücher sammeln, die ich ganz bald entsorgen möchte. Ich weiß jetzt, was zu tun ist.

Ich fange an, eine Antwort in mein Smartphone zu tippen. Dann geht alles ganz schnell. Als die Nachricht weggeschickt ist, stelle ich erschrocken fest, dass ich meinen Freund nicht dankend gebeten habe, den ganzen Kram bis auf das Fotoalbum zu entsorgen. Stattdessen habe ich ihm versichert, dass ich den Koffer ganz bald abholen werde. Im März oder April. Allerspätestens im Sommer.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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