Rektorin über das Startchancen-Programm: Vom Brennpunkt zum Bildungspreis

Trotz vieler Probleme hat eine Rektorin in Mülheim einen guten Lernort geschaffen. Erhält ihre Grundschule nun Geld aus dem neuen Startchancen-Programm?

Portrait der Schulleiterin Nicola Kueppers

Schulleiterin Nicola Kueppers hofft auf mehr Geld für ihre Schule Foto: Socrates Tassos/Funke Foto Service/imago

taz: Frau Kueppers, Sie leiten eine Grundschule im sozialen Brennpunkt in Nordrhein-Westfalen und haben gute Chancen, Mittel aus dem neuen Startchancen-Programm zu erhalten. Haben Sie schon einen Anruf bekommen?

Corinna Kueppers: Noch nicht. Ich bin aber auch nicht sicher, ob ich einen erhalten werde. In Nordrhein-Westfalen werden Schulen ja je nach Sozialindex in Stufen von eins bis neun zugeordnet. Neun bedeutet: höchste Belastung. Wir sind ab kommendem Schuljahr bei sieben eingestuft, auch wenn es sich eher nach Stufe acht oder neun anfühlt (lacht). Es müssten also noch viele andere Schulen vor uns an der Reihe sein, wenn es darum geht, für das Startchancen-Programm ausgesucht zu werden.

Ich habe nachgeschaut. Laut offizieller Statistik sind rund 270 Grundschulen in NRW schlechter dran als Sie. Schulministerin Dorothee Feller (CDU) hat aber angekündigt, landesweit würden 900 Schulen von dem Programm profitieren. So schlecht sieht es also nicht aus.

Das müssen jetzt die Mit­ar­bei­te­r:in­nen im Ministerium prüfen und entscheiden. Natürlich würde ich mich freuen, wenn unsere Schule für das Startchancen-Programm ausgewählt würde.

54 Jahre, leitet seit zehn Jahren die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr. Für ihren Einsatz für mehr Chancengleichheit hat die Schule 2021 und 2023 den Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung erhalten.

Die Grundschule am Dichterviertel liegt im Stadtteil Eppinghofen in Mülheim an der Ruhr. Mehr als 90 Nationen leben hier zusammen, die Armutsquote ist deutlich höher als in anderen Vierteln. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Dass wir von der Pädagogik bis zur Elternarbeit sehr gezielt auf die Kinder und die Familien eingehen müssen. Wir sehen, dass viele Menschen in unserem Einzugsgebiet mehrfach benachteiligt sind. Viele sprechen kaum oder kein Deutsch, 80 Prozent „unserer“ Eltern beziehen staatliche Transferleistungen. Für sie ist es zum Teil schwer, Behördengänge zu erledigen oder einen Kitaplatz zu bekommen. Da können wir nicht erwarten, dass alle immer zum Elternabend kommen. Gute Elternarbeit setzt voraus, dass sich die Menschen an der Schule willkommen fühlen.

Wie sieht die aus, gute Eltern­ar­beit?

Wir machen zum Beispiel zum Elternabend ein Picknick im Garten, wo sich die Schulgemeinschaft einfach mal kennenlernen darf. Oder wir bieten an, Elterngespräche auch digital zu führen, wenn die alleinerziehende Mutter es einfach nicht in die Schule schafft. Das sind vielleicht nur Kleinigkeiten. Aber wenn eine Frau mit Flucht­erfahrung sich traut, bei uns ­einen Tee zu trinken, ist das aus meiner Sicht sehr viel wert. Vor knapp anderthalb Jahren haben wir dann ein eigenes Familiengrundschulzentrum gegründet, wo sich Eltern treffen, über Freizeitaktivitäten informieren und auch Hilfe für Behördengänge bekommen können.

Als Sie die Funktion vor gut zehn Jahren übernommen haben, konnte so gut wie kein Kind richtig lesen oder schrei­ben. Im länderübergreifenden Vergleichstest Vera für die dritte Klasse landeten 98 Prozent der Schü­le­r:in­nen beim Zuhören in der niedrigsten Kompetenzstufe. Heute liegen die Leistungen über dem Landesschnitt und Ihre Schule gilt als Beispiel für gelungene Bildungsgerechtigkeit. Wie haben Sie das geschafft?

Das werde ich häufiger gefragt. Natürlich gibt es nicht die eine Antwort. Es ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig, um so einen Wandel hinzubekommen. Und das fängt vor allem beim eigenen Denken an.

Das müssen Sie erklären.

Als ich im Jahr 2013 an die Schule kam, hatten wir auch schon hervorragende Lehrkräfte. Nur haben die sich aufgerieben in den bestehenden Strukturen. Als ich gefragt habe, was sie jetzt brauchten, haben sie gesagt: eine Spülmaschine. Stellen Sie sich das vor! Die waren so am Limit, dass ihnen schlicht die Vorstellungskraft gefehlt hat, um „Out of the box“ denken zu können. Um aber die belastenden Strukturen ändern zu können, mussten wir uns erst mal bewusst machen, dass wir dafür viel stärker als Team zusammenarbeiten müssen. Das ist zum Beispiel eines der Dinge, die ich schnell geändert habe. Ohne diesen Schritt wäre der Unterricht, so wie wir ihn heute machen, gar nicht möglich.

Haben Sie ein Beispiel?

Gerne. Wir unterrichten ja nicht nach Schulstunden und auch nicht nach Jahrgangsstufe. Bei uns gibt es neun jahrgangsübergreifende Klassen. Während der selbstgesteuerten Lernphase gibt es überall im Haus Stationen mit verschiedenen Lernangeboten, je nach Interesse, Leistungsstand oder Förderbedarf der Kinder. Das bieten Lehrkräfte genauso an wie Lern­be­glei­te­r:in­nen oder Studierende. Die Lernphasen bereiten wir einmal die Woche gemeinsam mit allen Beteiligten vor. Ein anderes Beispiel ist unser Epochalunterricht in Kunst, Musik, Philosophie, ­Religion. Die Fächer unterrichten wir immer je zwei Wochen am Stück, also zwölf Schulstunden. Das bereiten auch immer zwei Kol­le­g:in­nen gemeinsam vor.

Mehrere Grundschulstudien haben jüngst Alarm geschlagen, dass immer mehr Grund­schü­le­r:in­nen die Mindeststandards im Lesen, Schrei­ben und Rechnen verfehlen. Wie ist das bei Ihnen an der Schule?

Wir merken, dass unsere sehr individualisierte Förderkultur wirkt. Heute sprechen wir für jedes dritte Kind eine Gymnasialempfehlung aus – die Hauptschulempfehlungen sind dagegen stark gesunken. Das ist ein großartiger Erfolg. Gleichzeitig haben wir aber auch immer noch zu viele Kinder, die wir nicht so erreichen, wie wir uns das wünschen. Das wollen wir natürlich noch weiter verbessern.

Wie könnte das gelingen?

Wir müssen die Kinder noch früher abholen, am besten schon im frühen Kindergartenalter. Schule muss mehr ein Raum des Gelingens werden, für viele Kinder ist Schule ja eher ein Ort, der mit dem Gefühl des Versagens verknüpft ist. Um das zu ändern, müssen wir wegkommen von dem Dauerleistungsmessen, über das wir Kinder ständig untereinander vergleichen. Tests oder andere Formen der Leistungsdiagnose sollten vor allem dazu dienen, die nächsten notwendigen Schritte im Lernprozess der einzelnen Schü­le­r:in­nen zu planen. Lernen und Leisten müssen neu definiert und gelebt werden. Dazu gehört auch, Hausaufgaben in der Grundschule ganz zu verbieten.

An Ihrer Schule gibt es keine Hausaufgaben?

Nein, es gibt auch keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber, ob Hausaufgaben zu besseren Lernleistungen führen. Deshalb muten wir sie unseren Kindern nicht zu.

Es klingt nicht so, als ob Sie die Hilfe aus dem Startchancen-Programm unbedingt benötigen. Wo hakt es noch?

Beim Personal. Aktuell habe ich fünf Mitarbeiter:innen, die befristet angestellt sind. Das ist immer eine große Unsicherheit, wenn wir nicht wissen, ob es für sie bei uns weitergeht und wen wir vielleicht stattdessen einsetzen können. Und natürlich ist jede zusätzliche Stelle höchst willkommen.

Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Schule?

Aktuell endet unsere Nachmittagsbetreuung um 16 Uhr. Um unseren Kindern einen ganztägigen Beziehungs- und Bildungsort bieten zu können, müssten wir eine Ganztagsschule bis mindestens 18 Uhr sein. Wir stellen fest, dass die Personalproblematik ja nicht nur die Schulen trifft, sondern auch die Träger, die die Nachmittagsbetreuung sicherstellen. Ebenso die kommunalen Verwaltungen, die mit der Umsetzung vieler schulischer Projekte betreut sind. Hoch überschuldete Kommunen mit geringer Personaldecke benachteiligen Schulen in den notwendigen Entwicklungen zusätzlich.

Mit Ihrer Erfahrung: Was raten Sie Schulen, die vielleicht noch nicht so weit sind wie Sie?

Sie sollen sich zuallererst Hilfe für die Schulentwicklung holen. Ohne die Reflexion darüber, wo man steht und was man braucht, kommt man nicht wirklich weiter. Heute haben wir nur deshalb Strukturen, die an anderen Schulen undenkbar wären. Beispielsweise ein akutes Krisenmanagementsystem, das dafür sorgt, dass immer sofort zwei Erwachsene zur Stelle sind, wenn ein Kollege oder eine Kollegin im Unterricht überfordert ist. Da steckt die Überzeugung dahinter, dass wir nur als Team eine für alle gute Schule hinbekommen. Wenn jeder für sich allein arbeitet, wird das nichts.

Die Politik knüpft hohe Erwartungen an das Startchancen-Programm. Glauben Sie, dass es ihnen gerecht werden kann?

Ich fürchte, nicht mittelbar. Das Programm selbst finde ich sehr gut, es ist auch ein wichtiges Zeichen, dass die Politik das Thema ungleiche Chancen ernst nimmt. Es ist auch richtig, dass die Schulen über einen Teil der Mittel sehr frei verfügen können und dass die Zeitdauer von zehn Jahren realistisch angelegt ist. Das ist aber nur dann förderlich, wenn die Schulen von Anfang an gut begleitet werden. Ich weiß aus Erfahrung, dass es sehr schwierig wird, 900 Schulen mit Schulentwicklungsberatung in NRW zu begleiten. Mir ist ein Rätsel, wie das klappen soll.

Die Bund-Länder-Einigung sieht vor, dass die Länder zur Begleitung der Startchancen-Schulen „entsprechende Strukturen“ aufbauen sollen. Wie müssten die Ihrer Meinung nach aussehen?

Ganz wichtig ist neben der Beratung die Vernetzung, am besten bundesweit. Schulen brauchen mehr Austausch darüber, welche Konzepte funktionieren oder welche nicht. Wir müssen auch da mehr im Team arbeiten.

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