Frieden in Nahost: Die Nahost-Formel

Wegen des Gazakriegs befindet sich ganz Nahost in Aufruhr. Ohne dass die Palästinenser mehr Rechte bekommen, bleibt Stabilität in der Region aus.

Ein israelischer Soldat auf einem Panzer im Gegenlicht.

Ein israelischer Soldat geht an der Grenze zum Gazastreifen im Süden Israels in Stellung Foto: Tsafrir Abayov/ap

Wir haben uns in den letzten Wochen an eine gefährliche Eskalation in Nahost gewöhnt, die weit über Israel und den Gazastreifen hinausgeht. US-Kampfflugzeuge bombardieren inzwischen Stellungen schiitischer Milizen im Irak und in Syrien, die zuvor vermehrt Basen der dort verbliebenen US-Armee angegriffen haben. Amerikanische und britische Kriegsschiffe beschießen Positionen der Huthi-Rebellen im Jemen, von denen diese in den letzten Monaten immer wieder Handelsschiffe im Roten Meer angegriffen haben.

Die Ereignisse haben eines gemeinsam: Die Gruppierungen, die dafür verantwortlich sind, rechtfertigen ihre Aktionen damit, dass sie Druck aufbauen wollen, den Gazakrieg zu einem Ende zu bringen. Dabei bekommen diese Gruppen nicht nur offenen logistische Unterstützung aus dem Iran und agieren als dessen Satelliten. Sie finden auch Zustimmung in weiten Teilen der arabischen Öffentlichkeit – gerade weil sie eine Verknüpfung mit der Palästinenserfrage herstellen.

Das militärische Vorgehen der USA gegen diese Gruppen wird fast als Mittäterschaft im Gazakrieg interpretiert. Eine ganze Region befindet sich wegen dieses Krieges und dem Leiden der Bevölkerung im Gazastreifen im Aufruhr. Es ist heute klarer denn je: Ohne dass die Palästinenser mehr Rechte bekommen, wird es in der Region keine Stabilität geben.

Vorbei sind die Zeiten, als man im Westen die Hoffnung hegte, dass man die Nahost-Region stabilisieren und die Palästinenserfrage dabei einfach ausklammern könnte. Man feierte die sogenannten Abraham-Verträge, in denen die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko und Bahrain ihre Beziehungen zu Israel normalisierten als neuen Weg zum Frieden und hoffte, dass bald auch Saudi-Arabien dazustoßen würde. Man hatte die Rechnung allerdings ohne den palästinensischen Wirt gemacht und ohne die arabische öffentliche Meinung, für die die Palästinenserfrage auch 75 Jahre nach der Gründung Israels noch im Zentrum steht.

Damit stellt sich nicht nur die Frage, was mit dem Gazastreifen nach dem Krieg geschehen wird, sondern auch, welche Szenarien es derzeit für die gesamte Palästinenserfrage gibt. Denn sieben Millionen israelische Juden und sieben Millionen Palästinenser werden sich mit ihren Ansprüchen nicht in Luft auflösen. Im Wesentlichen gibt es hier vier mögliche Szenarien.

Szenario 1: Status Quo

Das erste Szenario wäre eine fortgeführte israelische Besatzung des Westjordanlands und ein weiterer Ausbau der dortigen israelischen Siedlungen. Dazu kommt ein weiteres Absperren des Gazastreifens, mit der großen Unbekannten, wer die dortigen Ruinen und die dort lebenden 2,3 Millionen Menschen nach dem Krieg verwalten soll.

Der Status Quo beinhaltet auch eine fortgesetzte Ungleichbehandlung der Palästinenser, die in Israel leben und einen israelischen Pass besitzen. Sie machen mittlerweile ein Fünftel der Bevölkerung in Israel aus.

Das größte Problem der Beibehaltung des Status Quo: Er war nie nachhaltig für die Palästinenser. Spätestens seit dem 7. Oktober ist auch klar, dass er nicht nachhaltig für die Israelis und deren Sicherheit ist.

Dazu kommt, dass der Westen seine Deutungshoheit des Konflikts unter dem jetzigen Status Quo zunehmend verliert. Das beweisen die Abstimmungen in der UN-Generalversammlung. 153 Länder stimmten dort zuletzt für einen Waffenstillstand im Gazastreifen, 10 dagegen, und 23 Länder enthielten sich, darunter Deutschland. Es zeigt sich aber auch an dem von Südafrika angestrengten und vom Internationalen Gerichtshof (IGH) angenommen Verfahren, in dem geprüft wird, ob Israels Vorgehen im Gazakrieg den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.

Szenario 2: Vertreibung der Palästinenser

Das zweite Szenario, das immer wieder von einigen Ministern im ultrarechten Kabinett des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu offen debattiert wird, ist die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen. Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, Minister für Nationale Sicherheit, machen keinen Hehl daraus, dass sie sich die Zukunft Gazas ohne die meisten palästinensischen Einwohner vorstellen. Manche Siedler diskutieren sogar in einem zweiten Schritt deren Vertreibung aus dem Westjordanland.

Rein militärisch wäre Israel wahrscheinlich fähig, diese Art von ethnischer Säuberung durchzusetzen. Politisch ist ein solches Szenario allerdings schwer vorstellbar. Zu groß wäre der internationale Aufschrei. Und Israels wichtigste militärische und finanzielle Unterstützer in Washington und einigen europäischen Hauptstädten würden in Bedrängnis geraten und müssten ihre Position überdenken.

Szenario 3: Zwei Staaten

Das bringt uns zum dritten Szenario, der Zweistaatenlösung, also einem palästinensischen Staat neben Israel. Diese Lösung ist seit zwei Jahrzehnten die offiziell von der EU und der USA geforderte. Sie ist aber in den letzten 20 Jahren zu einem europäischen und amerikanischen Lippenbekenntnis verkommen, einer Art Mantra, die den bisherigen Status Quo begleitet hat.

Dabei wollte keine Macht tatsächlich politisch investieren, um diese Lösung gegen Netanjahu durchzusetzen. Denn der hat in seiner Regierungszeit alles daran gesetzt, eine Zweistaatenlösung zu torpedieren, allem voran durch einen massiven Ausbau der nach internationalem Recht illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland.

Seit dem Oslo-Abkommen von 1993, das in einem palästinensischen Staat münden sollte, ist die Zahl der Siedler von 264.000 auf 502.000 angestiegen. Blickt man auf eine Karte des Westjordanlandes mit den Siedlungen, den Siedlerstraßen und den militärischen Sperrgebieten Israels, ist kein zusammenhängendes potentielles palästinensisches Staatsgebiet mehr erkennbar.

Auch manche Palästinenser sind kritisch gegenüber einer Zweitstaatenlösung. Zwar bekämen sie damit einen eigenen Staat, aber sie müssten ihre nationalen Ambitionen auf das ganze Palästina aufgeben. Sie argumentieren, dass ein solcher Staat auf gerade einmal 22 Prozent ihres ursprünglichen Territoriums gegründet würde.

Trotz vieler Widerstände und der praktischen Frage, ob es überhaupt noch ein ausreichendes Gebiet für eine überlebensfähigen Staat gäbe, hält man international an der Zweistaatenlösung als einzig gangbarem Weg fest. Wirklich denkbar wäre diese nur, wenn zumindest ein Teil der israelischen Siedlungen aufgegeben würde.

UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagte dazu vor kurzem: „Die Zweistaatenlösung wurde verleumdet, unterminiert, und wurde viele Male für tot erklärt. Es bleibt jedoch die einzige erreichbare, dauerhafte und gerechte Lösung für Frieden in Israel, Palästina und der Region“.

Szenario 4: Ein Staat für alle

Das vierte Szenario ist die Einstaatslösung, also ein säkularer, demokratischer Staat, in dem Israelis und Palästinenser, Juden, Muslime und Christen gleichberechtigt zusammenleben. Beide Seiten müssten dafür ihre nationalen Ambitionen mit jüdischer oder palästinensischer Identität aufgeben. Es gäbe keinen palästinensischen Staat, aber gleichzeitig auch keinen exklusiv jüdischen mehr. Das wäre auch das Ende der zionistischen Idee in ihrer heutigen Umsetzung.

Präsentiert wird diese Idee auf beiden Seiten von einer absoluten Minderheit, meist im akademischen Bereich. Einer ihrer israelischen Vertreter ist der ehemalige Mitarbeiter des israelischen Inlandgeheimdienstes Shin Bet und heutige Philosophie-Professor Omri Boehm. Sei es besser den Zionismus aufzugeben oder sollte man an einer durch die Vertreibung der Palästinenser befleckten Idee festhalten, fragt er. Er plädierte vor drei Jahren in seiner Streitschrift „Israel. Eine Utopie“ dafür, die Staatlichkeit Israels neu zu denken. Statt von einer Zweistaatenlösung spricht er von einer „israelisch-palästinensischen Föderation – einem Land für beide Völker“.

Auch der inzwischen verstorbene prominente palästinensische Intellektuelle und Vordenker Edward Said sprach bereits vor 20 Jahren von der Möglichkeit einer Einstaatslösung, die mit dem Prinzip eines Bürgers einhergehen müsse, bei dem die Rechte und Pflichten geteilt sind. Wenn alle die gleichen Rechte und Privilegien hätten, würden die Dogmen des religiösen Chauvinismus und der nationalen Ideologien für immer verloren gehen, schrieb er.

Bei der Einstaatslösung verändert sich einer der bisher grundsätzlichen Wesenszüge des israelisch-palästinensischen Konflikts. Es geht nicht mehr um einen Streit um Territorium, sondern um die grundsätzliche Frage der Gleichberechtigung zweier Völker in einem Staat.

Blickt man auf alle vier Szenearien, ist klar, dass sich die ersten beiden, also der Status Quo und die Vertreibung, letztendlich militärische Lösungen sind. Sie stützen sich auf die militärische Überlegenheit Israels und auf die immer mehr schwindende internationale Unterstützung Israels.

Die beiden anderen Optionen, die Einstaats- und die Zweistaatenlösung, sind politischer Natur. Sie sind die einzigen Lösungen, die mehr Gerechtigkeit schaffen. Denn eines hat der 7. Oktober mehr als deutlich gemacht: Ohne dass den Palästinensern in irgendeiner Form politisch ihre Rechte zugestanden werden, wird es für Israelis keine Sicherheit geben.

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