Glücksspiel und Stürzbierkontest

100 Jahre Las Vegas, und die Kopie boomt wie nie zuvor. 18 der 20 größten Hotels der Welt stehen in Las Vegas, weitere sind geplant. „Sin City“, wie die die Amerikaner ihr Sündenbabel in der Wüste nennen, erfreut sich steigender Umsätze

VON MICHAEL HEINE

Allein 15.000 Mädchen und Frauen strippen hier Tag für Tag im Akkord, hinzu kommt ein Heer von illegal arbeitenden Prostituierten und Straßenhändlern. Für fünf bis 10 Dollar pro Stunde etwa servieren leicht geschürzte Mädchen in den Casinos den Zockern ihre Drinks. Mit ihren unnatürlich gerundeten Silikonbrüsten, die sie gerüchtehalber von den Hoteleignern spendiert bekommen, halten sie die Spieler bei Laune und beflügeln den Umsatz.

Denn der ist die Mitte, um die die gigantische Täuschungsmaschine Las Vegas sich dreht – allein im kürzlich eröffneten „Wynn“, dem mit 2,7 Milliarden Dollar Baukosten teuersten Hotel der Stadt, müssen täglich zwei Millionen Dollar Umsatz eingespielt werden, damit es sich trägt. Doch für die Hotelbetreiber scheint die Rechnung aufzugehen: Die rund 130.000 Betten der Stadt (doppelt so viele wie in New York) haben eine traumhafte Belegungsrate von 85 Prozent, bis zum Jahre 2010 sollen 20.000 weitere Betten hinzukommen. Schon heute stehen 18 der 20 größten Hotels der Welt in Las Vegas, weitere sind geplant.

100 Jahre nach Gründung der Stadt ist Las Vegas heute die am schnellsten wachsende Metropole der USA. Waren 1955 noch 30.000 Menschen hier zu Hause, sind es heute fast zwei Millionen. Allein im vergangenen Jahr brachten die 37 Millionen Besucher der Stadt Einnahmen in Höhe von 34 Milliarden Dollar ein.

Jean Baudrillard hätte seinen Spaß gehabt, wäre er durch Las Vegas flaniert. Denn „Sin City“, wie die die Amerikaner ihr nationales Sündenbabel in der Wüste Nevadas nicht ohne Stolz nennen, ist das in Stein gehauene Konzept seines Simulakrums, der ultimative Sieg der Kopie über das Original. Kaum etwas ist hier wirklich: Sonnenuntergänge werden an die Decken der gigantischen Shopping-Malls projiziert, ein künstlicher Vulkan bricht 15-minütlich mit Lautsprechergrollen und Lasergewitter vor dem Mirage-Hotel aus, während chemisch generierter Orchideengeruch die Luft vor dem nachgebauten Markusplatz schwängert. Eine Wellenmaschine sorgt dafür, dass die Fluten des Swimmingpool-farbenen Canale Grande nicht zu leblos wirken, und egal ob vor dem Eiffelturm oder der Miniatur-Skyline New Yorks versuchen Elvis-Imitatoren ihr Urbild an Stimmgewalt und Leibesfülle zu übertreffen.

Doch anders als Baudrillard prophezeite, ist die Wirklichkeit deswegen nicht tot. Im Gegenteil, hinter all den falschen Teilhabern unzähliger Urbilder in Las Vegas verbirgt sich eine Gegenwart, die ebenso banal wie prosperierend ist. Mehr als eine Viertel Million Menschen in den Hotel-Casinos der Stadt sorgen dafür, dass die Alltagswirklichkeit den Besuchern der Wüstenstadt so weit wie möglich vom Leibe gehalten wird. Eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die sich herumgesprochen hat: 6.000 Menschen strömen Monat für Monat in die Stadt, um hier ihr Glück zu versuchen.

Raphael Rabensteiner ist einer von ihnen. Der 22-jährige Koch aus dem bayerischen Freilassing ist seit 2004 Sous-Chef im Hofbräuhaus von Las Vegas, natürlich einer originalgetreuen Kopie des Münchner Stammhauses. Er kam 2004, „um das Abenteuer zu suchen und weil ich schon immer nach Amerika wollte“. Seitdem arbeitet er sechs Tage die Woche, 12 Stunden pro Tag bei einer Woche Jahresurlaub. Bis zu 800 Mahlzeiten muss Rabensteiner mit seinem deutsch-amerikanisch-mexikanischen Team zu den Stoßzeiten am Wochenende anrichten. Dann, wenn die Bierhalle an der hoch frequentierten Verkehrskreuzung zum Bersten voll ist und ein sonnengebräunter Moderator in Krachledernen seinen Landsleuten deutsche Leitkultur in Form von brachialen Stürzbierkontesten näher bringt. Wenn er mit der Show-Attitüde eines Tony Marshall zum finalen Schluck bläst „Drink up, folks!“, und die Kopie ihrem deutschen Original bis aufs Erschreckendste gleicht.

Doch Rabensteiner verdient gut, das macht es erträglicher, dass er seine Heimat seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat und seine Freizeit sich auf kurze, heftige Wochenenden beläuft. Trotzdem, „partymäßig ist das ein Traum hier. Gerade mit den Mädels, die kommen nur fürs Wochenende und wollen Spaß haben, dann fahren sie wieder weg.“ In einer Stadt mit der Taktung von Las Vegas sind Beziehungen nun einmal so flüchtig wie eine Glückssträhne am Spielautomaten.

Und obwohl er noch immer fasziniert ist von den Möglichkeiten der Stadt und „von dem Geld, was hier gemacht wird“, freut er sich, wenn er im März 2006 seine Koffer packen wird und mal wieder eine grüne Wiese sehen wird. „Ich hab den Zauber hier ein bisschen durchschaut, nach einer Zeit wird das alles normal, Sex und Geld und so, die ganze Stadt ist darauf aufgebaut.“

Diese inhärente Logik herrscht selbst in seiner Weißwurstküche: Er erzählt von seinem Kollegen, der sich den Arm gebrochen hat und anstatt zum Arzt zu gehen, sich einfach eine Schiene kauft, damit er am nächsten Tag wieder arbeiten kann. „Der muss ja schließlich von irgendwas leben.“

Wie viele bei dem Überlebenspoker in Las Vegas auf der Strecke bleiben, lässt sich erahnen, wenn man einen Abstecher in das alte Zentrum der Stadt, „Downtown“, macht. Hier, in der Freemont Street, wo am 15. Mai 1905 der Grundstein für das spätere Illusionsmekka gelegt wurde und Bürgermeister Oscar B. Goodman gerade die Geburtstagsfeierlichkeiten öffentlich einläutet, ist das Las Vegas der Desillusionierung zum Greifen nahe: Keinen Kilometer von hier schieben Obdachlose ihr Hab und Gut in Einkaufswagen durch die Straßen, Junkies und Crack-Nutten kauern vor leeren Schaufensterscheiben, Leuchtreklamen bleiben ohne Strom. Hier ist das Las Vegas der anderen Statistiken. Das der explodierenden Aids- und Kriminalitätsraten, das der anonymen Spielsüchtigen und Analphabeten. Die Stadt, die keiner sehen will.

Doch von den Grenzen des Wachstums will der ehemalige Mafia-Anwalt Goodman nichts wissen: „Die einzige Grenze, die Las Vegas kennt, das ist unsere eigene Vorstellungskraft.“