Teilwiederholungswahl zum Bundestag: „Eine merkwürdige Sache“

Berlin wiederholt wegen der Wahlpannen die Bundestagswahl von 2021. Die Beteiligung ist schwach, das Ergebnis kommt erst weit nach Mitternacht.

Wahlhelferinnen und Wahlhelfer sortieren bei der Stimmauszählung im Carl von Ossietzky-Gymnasium im Wahllokal 317 die Stimmzettel

In Berlin wurde am Sonntag die Bundestagswahl vom 26. September 2021 teilweise wiederholt Foto: Soeren Stache/dpa

BERLIN taz | So richtig weiß er nicht, was er sagen soll, auch wenn er der Stargast des Abends ist. „Wir haben ja leider noch keine Zahlen“, sagt Berlins CDU-Chef Kai Weger, Regierender Bürgermeister und damit sozusagen Ministerpräsident des Stadtstaats. „Eine merkwürdige Sache“, fügt er noch hinzu, als er um kurz nach 19 Uhr vor seinen Partyfreunden bei einer Wahlparty im Bezirk Pankow im Nordosten Berlin steht. Tatsächlich ist so vieles anders als sonst, als am Sonntagabend um 18 Uhr die Wahllokale für die Teilwiederholung der Bundeswahl von 2021 schließen. Es gibt keine Prognose, keine Hochrechnungen, keine Bildschirme mit hochschnellenden Balken – und absehbar bis weit nach Mitternacht keine Klarheit, wer diesen Wahltag dominiert hat.

54 Tage liegt bei Wegners Worten jener Dienstag kurz vor Weihnachten zurück, an dem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil fällte, das nun die von Wegner so beschriebenen merkwürdigen Folgen hat. Anders als das Landesverfassungsgericht ein Jahr zuvor, das die Wahlen zum Landesparlament komplett wiederholen ließ, hielten die Bundesrichter eine Teilwiederholung für ausreichend – in nur 455 von über 2.200 Wahlbezirken, also gerade mal einem Fünftel. Hintergrund der Verfahren waren die zahlreichen Wahlpannen am 26. September 2021, als in Berlin nicht bloß der Bundestag, sondern auch das Landesparlament gewählt wurde

Schnell war klar: Auswirkungen auf die Mehrheit im Bundestag würde das nicht haben. Auch Änderungen in den Wahlkreisen würden absehbar nur in zwei von zwölf möglich sein – zu wenig Wahlberechtigte würden in den anderen abstimmen dürfen, um an dem Ergebnis von 2021 etwas ändern zu können. Auch die fürs politische Überleben der Linkspartei im Bundestag unabdingbaren beiden Berliner Direktmandate würden ungefährdet sein.

Was wohl möglich war und schnell ins Zentrum bundespolitischer Bemühungen um eine trotzdem hohe Wahlbeteiligung geriet: Die Angst, die AfD könne, auch ohne Wahlkreisegewinne, ihre Anhängerschaft hochgradig mobilisieren und prozentual stark zulegen. Gerade nach den Enthüllungen um ein Treffen von Rechtsextremen in Potsdam riefen alle Parteien diesseits der AfD dazu auf, mit einer hohen Wahlbeteiligung ein Signal auszusenden.

Geringere Wahlbeteiligung

Diese Aufrufe zeigen bis zum späten Nachmittag nur beschränkt Wirkung. Bis 16 Uhr haben nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten gewählt – 2021 waren es zum selben Zeitpunkt 57 Prozent, also fast die Hälfte mehr.

Bei der CDU-Wahlparty laufen die ersten Ergebnisse ein – man macht sich Hoffnungen, zwei Wahlkreise übernehmen zu können, die 2021 an die SPD und die Grünen gingen, und in denen nun in vielen der 455 Wahlbezirke nochmal gewählt wird. In Charlottenburg-Wilmersdorf lag damals der frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller für die Sozialdemokraten vorne, in Pankow der Grüne Stefan Gelbhaar. Wenn die Leute an diesem Sonntag so abgestimmt haben wie in den jüngsten Wahlumfragen, könnte nun die CDU vorne sein. Doch auch die Grünen, deren Kandidatin Lisa Paus seit 2022 als Bundesfamilienministerin zusätzliche Bekanntheit hat, machen sich Hoffnungen, Müller abzulösen

Skurrilerweise würde ein neuer CDU-Wahlkreissieg eine Frau um ihr Mandat bringen, die mit Parteichef Wegner zur Wahlparty gekommen ist: Berlins erst seit einem halben Jahr amtierende CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein, mit 39 eine große Nachwuchshoffnung der Partei, rückte 2021 über die Landesliste in den Bundestag. Die aber kommt nur zum Tragen, wenn die CDU weniger Wahlkreise gewinnt, als ihr Parlamentssitze zustehen. Anders als Klein würde SPD-Mann Müller im Bundestag bleiben, weil ihn die SPD-Landesliste absichern würde.

Eine weitere landespolitische Folge wird an diesem Abend angesichts der geringen Wahlbeteiligung immer wahrscheinlicher: Die Berliner Grünen dürften, wegen weniger absoluter Stimmen bei den Zweitstimmen, einen Bundestagssitz verlieren. Das beträfe ausgerechnet die Landesvorsitzende der Partei, Nina Stahr, die wie Klein erst 2021 in den Bundestag kam.

Auch SPD-Mann rechnete sich Chancen aus

Die ersten Ergebnisse, die von der Landeswahlleitung bei der CDU-Party einlaufen, sehen zwar Gewinne bei CDU und AfD. Das Direktmandat der Grünen in Pankow scheint allerdings nicht gefährdet. Doch sind die Zahlen in keiner Weise gewichtet – es ist reiner Zufall, ob zuerst Ergebnisse aus traditionellen Grünen-Hochburgen etwa im angesagten Ortsteil Prenzlauer Berg oder aus ländlicheren, CDU-näheren Regionen des Bezirks einlaufen. Erst für 1.30 Uhr am Montagmorgen hat Landeswahlleiter Stephan Bröchler das Endergebnis angekündigt.

Der 2021 am Grünen Gelbhaar gescheiterte Pankower SPD-Direktkandidat Klaus Mindrup zeigt sich schon zu Beginn seiner Wahlfeier, nur wenige Kilometer von der CDU entfernt, skeptisch, dass es ihm gelingt, den Wahlkreis zu gewinnen. „Ich hatte viel Unterstützung im Wahlkampf, aber ob das reicht?“, sagt er zur taz. Klar sei, dass die Politik der Ampelregierung und damit auch der SPD für ihn „weniger Rückenwind als Gegenwind“ gewesen seien. Daher: „Wenn es heute klappen sollte, wäre es eine Sensation. Aber ich könnte jetzt genauso gut versuchen, die Lottozahlen vorauszusagen.“

Die Laune ist trotzdem bestens im passabel besuchten kleinen Theater „Varia Vineta“ in einem inzwischen auch bereits ordentlich durchgentrifizierten Teil des Ostberliner Großbezirks Pankow. Rund 50 Ge­nos­s:in­nen und Mindrup-Unterstützer:innen sind es, die sich zu der „Wahlabend-Veranstaltung“ der SPD aufgemacht haben. Immerhin. Beim offiziellen Gesamtberliner Wahlkampfabschluss in der Parteizentrale der Bundes-SPD am Freitagabend waren es auch nicht mehr.

Einen „musikalischen Stargast“ hat sich der Mietenpolitiker Mindrup auch noch ins Abendboot geholt: Der 2021 nach recht unschönen Machtmanövern der Spitze der Hauptstadt-SPD aufs Abstellgleis geschobene Berliner Umweltpolitiker Daniel Buchholz singt unter anderem „Strangers in the Night“ von Frank Sinatra. Es gibt ein paar laut quietschende Rückkopplungen. Stört aber keinen, es wird fleißig applaudiert. Buchholz obliegt es, ab kurz vor 19 Uhr die Zeit des Wartens mit seinem Unterhaltungsprogramm zu überbrücken.

Warten auf neue Zahlen

Es ist ein Warten auf Zahlen. Warten aber auch auf die SPD-Landeschefin Franziska Giffey, die sich als eine Art Reisekaiserin von der Veranstaltung von Generalsekretär Kevin Kühnert, der sein Direktmandat in Tempelhof-Schöneberg zu verteidigen hatte, weiter nach Pankow chauffieren lässt.

Mindrup sagt: „Persönlich war das der beste Wahlkampf, den ich je erlebt habe.“ Und der Parteilinke hat einige erlebt. Sowohl 2013 als auch 2017 und 2021 unterlag er dabei zunächst jeweils dem Kandidaten der Linken, zuletzt dann eben dem der Grünen. Anders als Kühnert oder Exregierungschef Müller ist Mindrup nicht über die Landesliste abgesichert. In diesem Winter warb er mit dem Slogan „Neuanfang“ um Erststimmen. „Weil ich der Meinung bin, dass die Ampel das braucht bei den Themen, in denen ich unterwegs bin: Mieter- und Klimaschutz“, so Mindrup.

Lag der SPD-Politiker aufgrund der eigenartigen Ausgangslage mit rund 20 Prozent selbst im besonders wiederholungswahlbedürftigen Pankow nicht-annullierten Erststimmen am Anfang des Wahlabends erst einmal vorn, robbte sich der Grüne Gelbhaar recht bald immer näher an Mindrup ran. Als Franziska Giffey gegen 20 Uhr dann auf ihrer City-Tour verspätet die kleine Feier in Pankow erreicht und rund 70 Prozent der fast 260 Wahllokale im Bezirk ausgezählt sind, liegt der SPD-Mann mit unter 17 Prozent bereits 9 Punkte hinter Gelbhaar mit 26 Prozent – und gefährlich nah am drittplatzierten Kandidaten der rechtsextremen AfD, der zu dem Zeitpunkt auf knapp unter 16 Prozent kam.

„Ich gehe gleich Kotzen, das hier bei uns in Pankow“, sagt eine Landespolitikerin vom linken Parteiflügel mit Blick auf den AfD-Balken zur taz. „Es sieht verheerend aus. Das ist gelaufen“, sagt Mindrup. „Man kommt hier rein und denkt, die Stimmung ist jetzt nicht am Kochen“, ruft Giffey den Gästen von der Theaterbühne aus zu. „Die Ergebnisse für die SPD sehen gut aus. Und das ist eine gute Nachricht“, versucht sich die ehemalige Regierende Bürgermeisterin als Motivatorin. Klaus Mindrup wird dann auch noch mal von Giffey auf die Bühne geholt. Wieder Applaus. „Ja, dit hatta auch vadient“, berlinert die Chefin munter ins Mikrofon. Der Grünen-Kandidat liegt da bereits 10 Prozentpunkte vor Mindrup.

Großer Andrang bei der Linkspartei

Einige hoffnungsvolle Gemüter haben sich zuvor durch den Regen in das Karl-Liebknecht-Haus, die Parteizentrale der Linken gekämpft. „Der Saal ist voll“, sagt die Abgeordnete und Moderatorin des Abends, Katalin Gennburg, „das ist toll“. Bei ausreichend Proviant – und vor allem alkoholischer Versorgung – feiern Kandidat*innen, Wähl­kämp­fe­r*in­nen und Par­tei­mit­glie­der*in­nen den „skurrilsten Wahlkampf, den Berlin je gesehen hat“.

Obwohl die Partei in den letzten Monaten „die eine oder andere Krise“ gesehen habe, wie ihr Berliner Landesvorsitzender Maximilian Schirmer einräumt, habe der Landesverband einen „fantastischen Wahlkampf“ hingelegt. Par­tei­mit­glie­der berichten vom Straßenwahlkampf und Haustürgesprächen an den über 6.000 Türen, die man abgeklappert habe. Dabei seien einem vor allem von Herausforderungen berichtet worden, wie Mietpreiserhöhungen, ausgefallenen Heizungen, fehlenden Aufenthaltsräumen für Jugendliche sowie mangelnder Barrierefreiheit im ÖPNV, erzählen sie.

„Mit den Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum, guter Gesundheitsversorgung sowie ausreichend ausgestatteten Schulen und Kitas haben wir in diesem Wahlkampf konkrete politische Themen vorgestellt“, ist vom Bundeschef der Partei zu hören, Martin Schirdewan. „Hoffentlich hat das genug Leute überzeugt, sodass wir mit unseren 4 Bundestagsabgeordneten weiterarbeiten können.“

Abgeordneter Meiser muss bangen

Um diese muss die Linke heute bangen. Zu befürchten ist, dass Pascal Meiser aus Friedrichshain-Kreuzberg, der 2021 über die Berliner Landesliste der Linken in den Bundestag einzog, sein Mandat nach Hessen, an Christine Buchholz, abgeben muss. „Wir drücken die Daumen für Pascal“, sagt die Co-Landesvorsitzende Franziska Brychcy.

„Ich bin stoisch, kämpferisch, gelassen“, sagt der Noch-Abgeordnete Meiser. Man habe einen „unfassbar geilen“ Wahlkampf hingelegt. „Egal wie der Abend ausgeht, darauf können wir aufbauen. Ich bin zuversichtlich gestimmt.“ Von der Partei erhält er Rückenwind. Er sei immer sichtbar und habe für eine positive Öffentlichkeit gesorgt, lobt ihn Schirdewan. Aber auch wenn es der Linken nicht gelingen sollte, sein Mandat zu verteidigen, betont Brychcy: „Pascal, wir sind stolz auf dich.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.