Misslungene Frisuren und andere Probleme: Vom Ungenügen, mittelmäßig zu sein

Wenn selbst der Ethikrat an der eigenen Unzulänglichkeit verzweifelt, wird es schwierig. Wer soll einem dann den Weg aus der Misere weisen?

Blick in einem Friseursalon

Auf dem Friseurstuhl wächst die Verzweiflung Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Als es Frühling wurde, fiel mir auf, wie lange ich den Ethikrat nicht mehr gesehen hatte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich vermisste ihn, und da er sein Büro aufgegeben hatte, begann ich auf gut Glück nach ihm zu suchen. Aber der Rat blieb verschwunden, bis ich eines Tages an einem Friseurladen vorbeiging, der lange leer gestanden hatte. Im Fenster hing ein schiefes Pappschild: „Schöne Schnitte von philosophischer Hand“ stand darauf in verwischter Schrift.

Drinnen war es dämmrig, und erst allmählich erkannte ich den Ethikrat. Eines der Ratsmitglieder saß auf einem riesigen thronartigen Friseurstuhl, das andere Mitglied rührte Farbe in einer Schale an, und der Ratsvorsitzende stand mit einem Trimmgerät neben dem Friseurstuhl. „Guten Tag“, sagte ich, „ich habe Sie vermisst.“ „Danke“, sagte der Ratsvorsitzende, „wir versuchen derzeit, unsere Angelegenheiten zu ordnen.“ Er klang ungewohnt mutlos.

Ich kam näher und betrachtete das Haar des Ratsmitglieds auf dem Friseurstuhl, das aussah, als hätten Motten darin gearbeitet. „Können Sie es erkennen?“, fragte der Ratsvorsitzende. „Nicht sofort“, sagte ich zögernd. „Es ist das Unendlichkeitszeichen“, sagte der Vorsitzende trübe. „Niemand erkennt es.“ Er wies auf ein Schild neben dem Friseurstuhl: „Nur hier: Philosophische Symbole gegen geringen Aufpreis“. Das Ratsmitglied glitt unauffällig vom Friseurstuhl und verschwand im Hinterzimmer.

„Ist dies eine ästhetische Feldforschung?“, fragte ich, denn der Rat verfolgte in der Regel einen praktischen Zugang zur Philosophie. „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende und begann die Haare am Boden zusammenzufegen. „Wir beenden unsere philosophische Laufbahn.“ „Wie bitte“, rief ich, „das geht nicht. Ich brauche doch Ihre Hinweise.“ „Selbstverständlich geht es, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende erbittert. „Wir sind es leid, dass unsere Antworten bestenfalls vorläufig sind. Wir sind es leid, dass wir unsere Arbeit nicht anfassen können, keine Mauer, kein Baum, kein Garnichts.“

Er hielt inne. „Wir sind es leid, dass niemand Epiktet kennt“, sagte eines der Ratsmitglieder, das in der Regel schwieg. „Wir mussten erkennen, dass wir nie den Rang eines Zenon erreichen werden“, sagte der Vorsitzende. „Aber auch unsere Haarschnitte sind bestenfalls mittelmäßig.“ Der Rat stellte sich wie ein griechischer Chor vor mir auf. „Was raten Sie uns?“, fragte der Vorsitzende. „In dieser schwierigen Lage“, sagten die beiden anderen Ratsmitglieder.

Die Hoffnung wankt

Ich war ratlos. Ich war Expertin im Ungenügen an meiner eigenen Mittelmäßigkeit, mehr nicht. Der Ethikrat war meine Zuflucht, und ihn bedürftig zu sehen, bereitete mir Unbehagen. Wenn er wankte, wankte die Hoffnung, irgendwo in den Falten der Antike gäbe es Lösungen auch für so murksige Fälle wie mich. Der Rat sah mich fragend an. „Nun“, sagte ich zögernd und zog mein Epiktet-Exemplar aus der Tasche. „Epiktet schreibt“, ich blätterte, „bei einem jeden Vorkommnis halte Einkehr in dich selbst, und bestrebe dich, zu untersuchen, welche Möglichkeiten du hast, mit ihm fertig zu werden.“

Der Rat schwieg. Ihm Epiktet vorzulesen hieß, Eulen nach Athen zu tragen, dachte ich beschämt. Ich näherte mich dem Friseurstuhl. „Wie wäre es, wenn Sie sich bei den philosophischen Symbolen auf einfache Motive aus dem Bereich der Existenzquantoren konzentrierten“, sagte ich vorsichtig. „Zur Not könnte ich auch Ihr Modell sein.“ „Wir danken Ihnen, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende. „Ihre Hilfe bedeutet uns viel.“ Er griff nach dem Trimmer. Mir schauderte.

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