Teil der Wiedergutmachung

Die Washingtoner Prinzipien wurden bereits vor 25 Jahren beschlossen. Es ging darum, nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut in staatlichem Besitz zu suchen. Nun wurde vor wenigen Tagen eine Neufassung unterschrieben, die Bewegung in die Sache bringen soll. Auch von Deutschland

Von Julien Reitzenstein

Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“, sichert das Grundgesetz zu – wie auch schon die Weimarer Verfassung. Damit wird das Grundrecht auf Eigentum das einzige Menschenrecht, das vererblich ist. Doch ab 1933 wurde trotz der Bestimmungen der Weimarer Verfassung die Beraubung von Juden eine wichtige Einnahmequelle bei der Finanzierung der Aufrüstung für den Krieg – der seinerseits ab 1939 durch die systematische Beraubung von anschließend ermordeten Juden mitfinanziert wurde. Kunst, Judaica, Bibliotheken, Gobelinsaal und vieles mehr gelangte oft in Sammlungen des NS-Staates oder seiner Protagonisten.

Die legendären Monuments Men, die Kunstschutzoffiziere der US-Streitkräfte, trugen offenbares Raubgut aus Museen und Wohnungen von NS-Funktionären zusammen, damit es den Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben werden kann.

Anders war es in der sowjetischen Besatzungszone. In den letzten Kriegsjahren wurden unzählige deutsche Kunstschätze in die östlichen Regionen des Deutschen Reichs verlagert, wo sie vor den gefürchteten Bombenangriffen der USA und des Vereinigten Königreichs geschützt waren. Unzählige der verlagerten Kunstschätze waren zuvor Juden geraubt worden. Die Sowjetunion behandelte sie jedoch pauschal als „Nazikriegsbeute“ und bestahl so die Juden Europas ein zweites Mal. Daher liegt heute noch erhebliches Eigentum beraubter Juden in Moskauer Museen.

Darauf wies am Dienstag Stuart E. Eizenstat in Washington D. C. hin, als er verkünden konnte, dass 22 Staaten die „Best Practices“, eine Neufassung der Washingtoner Prinzipien, unterschrieben haben. Der vormalige stellvertretende Finanzminister der USA gilt als der Vater dieser 1998 nach der Washingtoner Konferenz verabschiedeten Grundsätze. Sie regeln, wie Staaten mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Vermögen umgehen sollten. Viele Staaten, darunter die Bundesrepublik, nahmen die Erklärung an. Sie verpflichten sich, „nach NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut zu suchen und gegebenenfalls die notwendigen Schritte zu unternehmen, eine gerechte und faire Lösung zu finden“, allerdings nur für Raubgut in staatlichem Besitz.

Mittlerweile wurden in Deutschland zahlreiche solcher Lösungen gefunden. Mal handelte es sich um ein Buch, mal eine kleine Bibliothek, ein Möbelstück oder ein Porträt eines Vorfahren von einem regionalen, heute vergessenen Maler – in den allermeisten Fällen beträgt der materielle Wert der bisher zurückgegebenen Kulturgüter je wenige Tausend Euro.

Der Koalitions­vertrag sieht die Schaffung eines Raub­kunst­ge­setzes vor. Clau­dia Roth hat es jüngst abgelehnt

Allerdings schaffen es jene seltenen Fälle, wo es um Millionenwerte, beispielsweise Gemälde berühmter Künstler geht, zuverlässig in die Medien. Das ist stets eine Steilvorlage für Antisemiten. Oft zeichnen sie dann Stereotype von geldgierigen Juden, die angeblich deutsche Museen plündern wollen. Selbstverständlich unterschlagen Antisemiten gern zwei wichtige Aspekte: Die in Rede stehenden Stücke wurden von Bürgern aus ihrem versteuerten Einkommen bezahlt. Und der Staat garantiert mit der Rückgabe das Grundrecht auf Eigentum. Mit der Annahme der Washingtoner Prinzipien vor 25 Jahren und der Neufassung vor wenigen Tagen beruft der Staat sich nicht auf die Verjährung, er tut das moralisch Richtige: Er sucht in seinem Besitz aktiv all das, was nie sein Eigentum war.

Doch sind auch nach 25 Jahren weite Bestände der staatlichen Museen bis heute nicht vollständig auf ihre Provenienz überprüft worden. Viele Museen haben bislang noch nicht einmal ihre Bestände auch nur vollständig inventarisiert. Die Annahme der Best Practices am Dienstag gibt vielen Erben nun Hoffnung. Mitte März soll es auf dem Städtetag weitere Fortschritte zwischen Bund, Ländern und Kommunen geben. Kulturstaatsministerin Claudia Roth könnte noch in diesem Jahr substanzielle Verbesserungen für die Situation der Erben und der Museen verkünden – und das ist dringlich: Während es unwahrscheinlich ist, dass die AfD in der nahen Zukunft im Bund mitregiert, sieht es auf kommunaler Ebene anders aus. Oft wird übersehen, wie groß die Zahl der Museen auf kommunaler Ebene ist.

In Burladingen beispielsweise lehnte der Bürgermeister die Rückgabe eines zweifelsfrei NS-verfolgungsbedingt geraubten Lenbach-Porträts ab mit der Begründung: „Da die Stadt das Gemälde seinerzeit rechtmäßig erworben hat, sehen wir jedoch keinen Grund, diesen Ansprüchen nachzukommen. Daran ändern auch die von Ihnen genannten Erklärungen nichts, die die Stadt im Übrigen nicht binden.“ Mit Erklärungen meinte Bürgermeister Harry Ebert, der ab 2018 als AfD-Mitglied der Stadt vorstand und 2020 zurücktrat, die Washingtoner Prinzipien und ihre Anwendungsregelungen in Deutschland. Gerade weil diese tatsächlich nicht rechtlich bindend sind, sondern ein moralischer Kompass, muss abgewartet werden, wie sich der Städtetag zu den Best Practices positioniert.

Noch kann niemand wissen, wie Kommunalpolitiker zukünftig entscheiden werden. Was nachdenklich macht, ist die Haltung einiger Mandatsträger der AfD. Sollten sich allerdings Bestrebungen Einzelner in der AfD manifestieren, sich der aktiven Provenienzforschung entgegenzustellen, gäbe es ein einfaches Gegenmittel: Der gegenwärtige Koalitionsvertrag sieht die Schaffung eines Raubkunstgesetzes vor. Dessen Schaffung hat jedoch die zuständige Kulturstaatsministerin Claudia Roth jüngst abgelehnt. Gleichwohl sollte sie die Chance wahrnehmen, Bund, Länder und Gemeinden zur Umsetzung der Washingtoner Prinzipien nebst der neuen Best Practices in Form eines verbindlichen Gesetzes nun hinter sich zu versammeln.

Die legendären Monuments Men – Kunstschutzoffiziere der US-Streitkräfte, die Raubgut aus Museen und Wohnungen von NS-Funk­tionären zusammen­trugen Foto: ap/picture alliance

Alternativ kann sie einen Perspektivwechsel vornehmen: Bislang wird NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut als Kulturangelegenheit betrachtet – und aufgrund der Kulturhoheit der Länder haben diese ein Mitspracherecht. Einige von ihnen, insbesondere Bayern, verweigern sich bislang verbindlichen Regelungen in Form eines Gesetzes. Allerdings hat der Bund die alleinige Hoheit bei Wiedergutmachung von NS-Unrecht.

Wenn man zukünftig Beraubung von Juden nicht als Kultur, sondern als Unrecht verstehen will, könnte Roth einen gordischen Knoten durchschlagen und zusätzlich von vornherein jedem zukünftigen Nachdenken der AfD, aktive Provenienzforschung nebst Erbenermittlung abzulehnen und so Beraubten weiter ihr Eigentum vorzuenthalten, einen Riegel vorschieben.

Dieser Schritt würde einen Teil des durch die Antisemitismusdebatten bei Documenta und Berlinale verlorenen Vertrauens in die Kulturpolitik wiederherstellen und bei der Bekämpfung des Antisemitismus, des Gradmessers für den Zustand von Demokratien. Vor allem, da seit der Unterzeichnung der Best Practices am Dienstag viele Länder genau auf die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs schauen und abwarten, wie gegebene Selbstverpflichtungen, vom Raubkunstgesetz bis zu den Best Practices, umgesetzt werden.

Der Autor ist als Historiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig