Musik, ganz konkret

Das Festival MaerzMusik ehrt zur Eröffnung am Freitag im Haus der Berliner Festspiele eine der innovativsten französischen Institutionen der Musik des 20. Jahrhunderts, die Groupe de Recherche Musicales

Hier soll man bloß hören: das „Acousmonium“ im Einsatz Foto: Didier Allard

Von Tim Caspar Boehme

Wer sich das Programm der Maerz­Musik zu Gemüte führt, könnte von einigen Ankündigungen abgeschreckt werden: „Acousmonium“ lautet der Titel des Eröffnungskonzerts am Freitag, darunter die Abkürzung „INA grm“. Die wird zwar sogleich ausbuchstabiert als „Groupe de Recherche Musicales“, doch wer mit der nicht vertraut sein sollte, dürfte bei diesen Zeichenfolgen ratlos reagieren.

Dabei steckt hinter dem Kürzel INA grm beziehungsweise der 1958 in Paris gegründeten „Groupe de Recherche Musicales“ eine der größten Innovationen der Musik des 20. Jahrhunderts, die Musique concrète, und ihr Gründer, Pierre Schaeffer, kann als einer der prägendsten Pioniere der Avantgarde gelten. INA grm besteht als Institut bis heute fort. Ihre Ideen entwickelten sich stets weiter, beginnend mit der Musique concrète, die Alltagsgeräusche zu ihrem Arbeitsmaterial erklärte.

Dabei könnte man zunächst entgegnen: Was soll dieses „konkret“ eigentlich bedeuten, was soll konkrete Musik im Unterschied zu abstrakter Musik überhaupt sein? Wenn man Klänge ganz grundsätzlich betrachtet, ließe sich einwenden, sind sie entweder alle konkret, ein Autohupen genauso wie der Ton einer Trompete, oder sie sind, sobald von Musik die Rede ist, alle gleichermaßen abstrakt, da sie keinem anderen Zweck dienen als dem des Musikmachens, mit welchen Mitteln auch immer. So gesehen erscheint die Unterscheidung leicht künstlich.

In der Kunstmusik galt das „Abstrakte“ jedoch als wichtige Kategorie, und dieser wollte der Ingenieur Schaeffer etwas entgegensetzen. Das geschlossene System der Musik, die für Instrumente mit festgelegten Tonhöhen geschrieben wurde, erweiterte er durch das Verwenden von Alltagsgeräuschen. Nicht bloß neue Klänge, sondern auch neue Frequenzen konnten dadurch zu Musik werden. Damit vertrat Schaeffer einen Musikbegriff, der ähnlich radikal und offen war wie der seines US-amerikanischen Kollegen John Cage. Dass Schaeffer andererseits recht enge Grenzen zog, wie mit Geräuschen als musikalischem Material zu verfahren war, ist eine andere Geschichte. Die Komponistin Éliane Radigue etwa, die als Assistentin für Schaeffer arbeitete, stieß bei ihm auf Unverständnis, als sie wagte, mit Geräuschen kontinuierliche Drones zu komponieren.

Schaeffers Ideal sah vor, dass man in der Musik einen Weg vom Konkreten zum Abstrakten einschlägt. Für ihn bedeutete dies, dass die Geräusche als Tonbandaufnahmen bearbeitet, verfremdet und in neue Zusammenhänge gestellt werden mussten, sodass man zum Teil die ursprüngliche Klangquelle höchstens noch erahnen konnte. Musique concrète war damit eine Proto-Form des Samplings und ein früher Beitrag zur elektroakustischen Musik. Denn da sie auf Tonbändern fixiert war, die ausschließlich über Lautsprecher wiedergegeben werden konnten, wurde das Ergebnis zu elektronischer Musik, bei dem die Klänge gleichwohl nichtelektronischen Ursprungs waren.

Diesen Gedanken verfolgten und verfolgen viele der Musiker weiter, die am Freitag bei der MaerzMusik unter dem Titel „Acousmonium“ zu Gehör gebracht werden. Der rätselhafte Name geht auf den Komponisten François Bayle zurück, der vor 50 Jahren ein Lautsprecherorchester dieses Namens entwickelte, das zur Eröffnung im Haus der Berliner zum Einsatz kommt. Nun könnte man einwenden, schön und gut, Musik über Lautsprecher hören kann man genauso gut zu Hause. Mit dem Acousmonium verbindet sich jedoch ein für die Musik der Groupe de Recherche Musicales wichtiger Aspekt, der auf Bayle zurückgeht und für den er den Begriff der Akusmatik geprägt hat.

In der Kunstmusik galt das „Abstrakte“ als wichtige Kategorie

Musik rein über Lautsprecher zu hören, bedeutet in diesem Fall, von der Erfahrung der Tonerzeugung isoliert zu sein. Die akustische Wahrnehmung kann nicht, wie bei einem Konzert mit Instrumenten auf der Bühne, optisch abgeglichen werden, sodass die Frage „Was macht die oder der da?“ im Prinzip unbeantwortet bleibt. Ein weiterer Aspekt der akusmatischen Musik ist, dass die verwendeten Klänge oft so bearbeitet sind, dass gar nicht mehr zu erkennen ist, was im Einzelnen als Material herangezogen wurde. Das Hören ist so auf sich selbst gestellt. Bayle zog damit eine weitere Konsequenz aus Schaef­fers Idee, in der Musique concrète vom Konkreten zum Abstrakten zu gelangen.

Trotz der akademischen Ideen, auf denen diese Musik fußt, stammen die Werke, die am Freitag erklingen, keineswegs alle von „akademischen“ Komponisten. Zu diesen zählen neben Bayle zum Beispiel Iannis Xenakis, Beatriz Ferreyra und Luc Ferrari, dessen hörspielartiges „Presque rien avec filles“ (1989) zu den „konkreteren“ Werken des Abends zu rechnen ist. Daneben gibt es Uraufführungen von Stücken des mit Post-Rock bekannt gewordenen Musikers Jim O’Rourke oder des Ambient-Produzenten KMRU. Und der Komponist François Bonnet, der zugleich die Leitung des Konzerts hat, macht unter den Namen Kassel Jaeger akusmatische Musik, die man ebenso gut Ambient nennen kann. Am Ende sind es bloß Worte.

MaerzMusik, 15. bis 24. 3., verschiedene Orte