Unter Gespenstern

An der Bayerischen Staatsoper in München inszeniert Tobias Kratzer Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“. Es geht um Verdrängung und Erinnerung an ein KZ

Das Captains Dinner wird in „Die Passagierin“ zu einer monströsen Bankettszene à la Macbeth Foto: Foto:Wilfried Hösl

Von Joachim Lange

„Die Passagierin“ ist eine Jahrhundertoper. Der Schostakowitsch-Schüler Mieczysław Weinberg (1919–1996), der als polnischer Jude auch in der Sowjetunion nur geradeso überlebte, hat das Werk 1968 dort vollendet. Uraufgeführt wurde es erst 2010 in Bregenz. Das Prädikat des Ausnahmewerks kommt ihm nicht so sehr wegen seiner – gleichwohl packenden – Musik zu, sondern wegen seiner Erzählung. In der „Passagierin“ geht es um die Erinnerung an den Zivilisationsbruch schlechthin; es geht um die Erinnerung an das Grauen von Auschwitz.

Die Vorlage für die Oper sind die Erinnerungen der 1923 geborenen Polin Zofia Posmysz, die das Vernichtungslager überlegte und 2022 starb. Ihr Erscheinen bei der Uraufführung 2010 in Bregenz sorgte bei allen, die dabei waren, für einen singulären Moment der Ergriffenheit.

Im Stück ist es die Täterper­spek­tive der SS-Frau Lisa Franz, die dem Blick zurück die komfortable Identifikation mit den Opfern verweigert. Lisa ist Ende der 60er Jahre mit ihrem Mann auf der Überfahrt nach Brasilien, wo diesen ein Diplomatenjob der jungen Bundesrepublik erwartet. Auf der Überfahrt bemerkt Lisa eine Passagierin, die sie aus dem Gleichgewicht bringt. Es ist die totgeglaubte Marta, zu der sie im KZ eine merkwürdige Beziehung hatte.

Anders als bisherige Inszenierungen verzichten Regisseur Tobias Kratzer und sein Ausstatter Rainer Sellmaier in der Bayerischen Staatsoper auf jene Bilder, die das Lager, die Sträflingskleidung, die SS-Uniformen oder gar die Krematorien und die Gewalt zeigen. Hier ist das alles in die Erinnerung von Lisa verlegt. Übersetzt wird das in eine Bildwelt, bei der das Vergangene, Verdrängte oder Erlittene allein in der Erinnerung lebt. Es bleibt immer bei der Fassade einer luxuriösen Seefahrt.

Im ersten Teil füllen drei Etagen mit 15 Kabinen mit Seeblick-Balkonen die Bühne. Eine bunte Mischung von Passagieren genießt den Ausblick. Eine alte offensichtlich verwirrte oder traumatisierte Frau mit einer Urne unterm Arm fällt auf. Es ist jene alt gewordene Lisa, die mit der Asche ihres verstorbenen Mannes zurück nach Europa reist und sich dabei an die erste Überfahrt erinnert, als die Wiederbegegnung mit Marta ihr vermeintlich wohlgeordnetes, vom Vergessen oder bewussten Verdrängen eingehegtes Nachleben erschütterte und sie zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gezwungen hatte.

Durch die von Kratzer hinzugefügte Anwesenheit der alt gewordenen Lisa wird die Reise auch zu einer Fahrt mit einem Gespensterschiff von lebenden Toten auf einem Meer der Erinnerung. Auch aus der Täterperspektive, die eine besondere Herausforderung für jeden nachgeborenen Zuschauer ist. In den Passagieren sieht und hört sie plötzlich immer wieder das KZ-Personal und die Gefangenen und Toten von damals.

Kratzer bleibt auch bei der direkten Konfrontation mit der Erinnerungs-Zeitebene im Vernichtungslager bei der Verweigerung. Die groteske Szene, wenn Martas Verlobter Tadeusz den Lieblingswalzer des Kommandanten spielen soll, bevor er in der zynischen Diktion der SS „in Rauch aufgeht“, spielt hier im mit langen Tafeln ausstaffierten Bankettsaals an Bord. Das Captains Dinner wird zu einer monströsen Bankettszene à la Macbeth. Marta sieht die Toten auf der Tafel, die wieder auferstehen, mit ihren Sehnsüchten nach dem gestohlenen Leben. In den vielen Sprachen der Opfer der Barbarei. Nur die Täter reden durchgängig deutsch.

Die Täterperspektive der Inszenierung ist eine besondere Herausforderung für jeden Zuschauer

Auf den ersten Blick weicht Kratzer der direkten Darstellung der Gewalt in eine Stilisierung aus, auf den zweiten freilich fordert er den Zuschauer damit mehr, als wenn er das Lager auf der Bühne bebildert hätte. Ganz am Ende sitzt die Lisa der Überfahrt allein an der verlassenen Tafel und vor ihr flimmern authentische Bilder des Grauens. Die so im kollektiven Gedächtnis eingebrannt sind, dass man sie auf dem kleinen Bildschirm selbst von weit hinten noch erkennt. Die uralte Lisa aus dem Jahr 2024 aber versinkt im Video in den Meeresfluten, sie bringt sich um.

Kratzers Inszenierung ist zwar nicht die letzte Antwort auf die Frage, ob man den Holocaust in naturalistischen Bildern auf die Bühne bringen kann und soll, er zeigt aber, dass man es nicht muss, um an das Grauen zu erinnern. Diese besondere Perspektive findet sich auch bei Vladimir Jurowski und dem Bayerischen Staatsorchester. Die brutalen Einschläge der Musik werden zwar akzentuiert betont, aber auch das Melodische, das Weinberg vor allem den Frauen um Marta zubilligt, wird zelebriert. Aus dem fabelhaften Ensemble ragen Sophie Koch als Lisa und Elena Tsallagova als Marta, Charles Workman als Walter und Jacques Imbrailo als Tadeusz heraus.