Terrorgruppe „Brigate Rosse“ in Italien: Die Regierung kämpft noch immer

Auch Italien hat einen ambivalenten Umgang mit seiner linken Terrorgruppe. Manche Ex-Mitglieder der „Brigate Rosse“ werden bis heute verfolgt.

Graffiti der Roten Brigaden

Ein Graffito für die „Brigate Rosse“ 1977 in Mailand Foto: Adriano Alecchi/Mondadori Portfolio/getty magesGraffit der Roten brigadebn

Die Parallelen stechen ins Auge. Genauso wie die RAF in Deutschland begannen die Brigate Rosse (BR) in Italien in den frühen siebziger Jahren ihren bewaffneten Kampf. Mit Morden an Polizisten, Politikern, Managern, Journalisten. Mit der Entführung Hanns Martin Schleyers oder des christdemokratischen Spitzenpolitikers Aldo Moro. Mit Raubüberfällen auf Banken und Waffengeschäfte.

Und genauso wie in Deutschland bedeutete das für die Terrorist*innen: Sie mussten abtauchen in den Untergrund – bis zum Tod bei einem Feuergefecht mit der Polizei oder bis zur Verhaftung und darauffolgenden jahrelangen Gefängnisaufenthalten.

In beiden Ländern sind die Kämp­fe­r*in­nen von damals heute im Rentenalter. Ihre Organisationen haben schon vor Jahrzehnten die Waffen niedergelegt. Von einer akuten linksterroristischen Gefahr kann längst keine Rede mehr sein.

Doch ein Unterschied zwischen beiden Ländern ist markant. In Deutschland waren es nur ein paar dutzend Personen, die für die RAF zu den Waffen griffen, in Italien dagegen gab es hunderte abgetauchte Kämpfer*innen, dazu eine mehrere tausend Personen umfassende Unterstützer- und Sympathisantenszene.

Über tausend Angeklagte

Als Angehörige der Roten Brigaden oder von ihr abgespaltener Organisationen fanden sich rund 1.200 Angeklagte vor den Gerichten wieder – und mindestens ebenso viele waren bei „kleineren“ Terrorformationen aktiv; allein die nach den BR zweitgrößte Organisation, Prima Linea, kam auf etwa 900 Aktive, gegen die die Justiz ermittelte. Insgesamt wird die Zahl der in den siebziger und achtziger Jahren verhafteten Links­ter­ro­ris­t*in­nen auf 4.000 geschätzt.

Die Brigate Rosse und die anderen Gruppierungen hatten eine große Blutspur im Land hinterlassen: 197 Menschen fielen ihnen zum Opfer, der letzte Tote war der im Jahr 2002 von den „Neuen BR“ erschossene Arbeitsrechtsprofessor Marco Biagi. Der Staat reagierte seinerseits mit großer Härte und sperrte die gefassten Ter­ro­ris­t*in­nen in Hochsicherheitsgefängnisse.

Nach der Entführung des US-Generals James Lee Dozier im Dezember 1981 und seiner späteren Befreiung durch die Polizei kristallisierte sich heraus, dass die Fahnder nur dank der Folter von Gefangenen dem Entführungskommando auf die Spur gekommen waren.

Und bis heute steht der Vorwurf im Raum, dass Beamte beim Sturm auf ein BR-Versteck in Genua im März 1980 mindestens einen der vier dort angeblich bei einem „Feuergefecht“ erschossenen Bri­ga­dis­t*in­nen gezielt hingerichtet haben, nachdem der schon entwaffnet worden war.

Italien ging auf Ter­ro­ris­t*in­nen zu

Neben extremer Härte setzte der italienische Staat in einer eigentümlichen Dialektik jedoch auch auf ein hohes Maß an Flexibilität im Umgang mit den Ak­ti­vis­t*in­nen der Terrorgruppen, die ihm ins Netz gegangen waren. Vorneweg war da die Kronzeugenregelung, die 1982 per Gesetz eingeführt wurde. „Pentiti“, „Reuige“, werden in Italien diejenigen genannt, die auspacken. Wer immer als Käm­pfer*in der BR nicht nur die eigenen Taten gestand, sondern auch die Mit­tä­te­r*in­nen beim Namen nannte, durfte auf einen kräftigen Strafnachlass hoffen. Aus „lebenslänglich“ wurden zehn Jahre Haft, und alle anderen zeitlich begrenzten Haftstrafen wurden halbiert.

Jenes Gesetz war der Anfang vom Ende des Linksterrorismus in Italien. So packte Patrizio Peci, führender Rotbrigadist, den die Polizei 1980 festnahm, umgehend aus und wurde später auch vor Gericht zu einem wichtigen Zeugen, lieferte Hunderte Kämp­fe­r*in­nen ans Messer – und wurde selbst zu nur acht Jahren Haft verurteilt.

Obwohl die Roten Brigaden grausame Rache an ihm nahmen, seinen Bruder entführten und ermordeten, sollte Peci nicht allein bleiben. In den folgenden Jahren sagten Dutzende Angehörige der Brigate Rosse, der Prima Linea und anderer Gruppen aus, sorgten so für die Verhaftung von Hunderten Militanten und erhielten ihrerseits geringfügige Haftstrafen – selbst dann, wenn sie an zahlreichen Morden beteiligt waren.

Doch auch jenen, die nicht gegen Mit­strei­te­r*in­nen aussagen wollten, machte der Staat ein Angebot. Für sie gab es in den Jahren 1980 und 1987 zwei Gesetze über die dissociazione, die „Lossagung“ vom bewaffneten Kampf gegen den Staat. Sobald sie erklärten, dass sie mit ihrer terroristischen Vergangenheit gebrochen hatten, durften auch sie auf Strafnachlass hoffen. Valerio Morucci zum Beispiel war einer der Chefs der Roten Brigaden in Rom gewesen und gehörte zu jenem Kommando, das am 16. März 1978 den Politiker Aldo Moro entführt und dessen fünf Begleitschützer ermordet hatte, während Moro selbst am 9. Mai von den BR erschossen werden sollte.

Gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin ­Adriana Faranda sollte Morucci sich kurz nach seiner Verhaftung im Jahr 1979 vom Kampf der BR lossagen; in dem Prozess zu Moros Entführung verlas er ein von 170 Ge­fan­ge­nen mitunterzeichnetes Dokument mit dem Titel: „Um einen Dialog mit der Gesellschaft wieder zu eröffnen“. Die Gerichte honorierten das mit kräftigem Strafnachlass, und er, den eigentlich eine Verurteilung zu lebenslanger Haft erwartete, wurde schon 1990 zum Freigänger.

In Frankreich untergetaucht

Selbst jenen, die weder auspacken noch dem bewaffneten Kampf abschwören wollten, streckte der italienische Staat die Hand aus. Da wären etwa Renato Curcio, ein weiterer Gründer der Roten Brigaden, oder Barbara Balzerani, Anführerin der BR. Beide hatten sich immer zur Geschichte ihrer Organisation bekannt, zugleich aber 1987 erklärt, der bewaffnete Kampf gehöre angesichts der veränderten historischen Bedingungen nunmehr der Geschichte an.

Dies reichte den Gerichten, um dem 1976 verhafteten Curcio im Jahr 1992 den Status des Freigängers einzuräumen und ihn im Jahr 1998 endgültig auf freien Fuß zu setzen. Und auch die wegen diverser Morde verurteilte Barbara Balzerani, verhaftet 1985, wurde 2006 auf Bewährung entlassen.

Macht Italien dies zum Gegenmodell gegenüber jenem Deutschland, das sich dafür feiert, endlich die RAF-Rentnerin Daniela Klette verhaftet zu haben? Wohl kaum. Denn es sitzen nicht nur weiterhin drei BR-Gefangene, die sich für den bewaffneten Kampf aussprechen, in Hochsicherheitshaft. Auch auf die Jagd auf frühere Kämpfer*innen, die längst im Pensionsalter sind, will der italienische Staat nicht verzichten.

Beispielhaft steht dafür Cesare Battisti, in Abwesenheit wegen mehrerer Morde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er war jahrzehntelang auf der Flucht, hatte sich ein neues Leben als vor allem in Frankreich gefeierter Schriftsteller aufgebaut, doch im Jahr 2019 erwischten die italienischen Fahnder den damals 64-Jährigen in Bolivien und erwirkten seine Auslieferung. Seither sitzt er in Haft.

Hinter Gittern will Italien auch jene zehn ergrauten Ter­ro­ris­t*in­nen sehen, die schon seit den achtziger Jahren in Frankreich Unterschlupf gefunden hatten; der Jüngste von ihnen ist heute 63 Jahre alt, der älteste feierte bereits seinen 80. Geburtstag. Frankreich war für die BR-Aussteiger*innen ungefähr das, was die DDR für müde RAF-Kämpfer*innen darstellte: ein sicherer Rückzugsraum, in dem sie vor einer Auslieferung geschützt waren. Zu verdanken hatten sie das der sogenannten Mitterrand-Doktrin: 1985 hatte der damalige französische Präsident François Mitterrand all jenen Mitgliedern von Terrorgruppen, die sich nicht des Mordes schuldig gemacht hatten, Schutz in Frankreich zugesagt.

Italiens Regierungen jedweder Couleur liefen immer wieder Sturm gegen den von Frankreich gewährten Schutz, stellten ein Auslieferungsgesuch nach dem anderen. Und im April 2021 schien die Hartnäckigkeit Erfolg zu haben: Sieben Ex-Ter­ro­ris­t*in­nen wurden in Paris in Auslieferungshaft gesteckt, gegen weitere drei Abgetauchte wurden Haftbefehle erlassen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte mit den Worten: „Jene Personen, die sich Bluttaten haben zuschulden kommen lassen, verdienen es, in Italien vor Gericht zu stehen“, sein Einverständnis zu der Auslieferung erklärt.

Doch Frankreichs höchstes Gericht stellte sich quer. Erstens seien die Gesuchten in Italien in Abwesenheit verurteilt worden, ohne nach einer Auslieferung auf einen neuen Prozess hoffen zu können. Und zweitens lebten sie seit 25 bis 40 Jahren in Frankreich, „einem Land, in dem sie eine stabile familiäre Situation haben, sodass ihre Auslieferung einen übermäßigen Schaden für ihr Recht auf Respekt ihres privaten und ihres familiären Lebens darstellen würde“.

Italien reagierte umgehend mit einem von allen Parteien außer der radikal-linken „Grün-linken Allianz“ im Abgeordnetenhaus verabschiedeten Beschluss, nach dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Pariser Nein zur Auslieferung kippen soll. Der italienische Staat, genauso wie der deutsche, hat sich offenbar ein altes Motto der Ter­ro­ris­t*in­nen zu eigen gemacht: „Der Kampf geht weiter.“

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