Buch über Identitätspolitik: Zwischen Woke und Wahnsinn

Yascha Mounks Buch „Im Zeitalter der Identität“ zeigt, wie noble Überzeugungen in Wahnideen eskalieren können.

Silhouette einer Person, die ein megafon in der Hand hält

Je lauter das Geschrei, desto stärker die Gruppenpolarisierung Foto: Bryan Smith/ZUMA Wire/imago

„Wokeness“ und „Identitätspolitik“ sind zu einer Modeerscheinung geworden, und ähnlich modisch wurde zuletzt auch die Kritik daran. Wobei sich heute wohl niemand mehr als „Woke“ oder Anhängerin von „Identitätspolitik“ charakterisieren würde. Die Begriffe sind unscharf, polemisch kontaminiert, im Grunde ruiniert.

Die Thematiken emotionalisieren, deshalb gibt es auch eine Schwemme am Buchmarkt, die man besser nur mit spitzen Fingern anrührt, weil man es auf der einen Seite häufig mit Betroffenheitsprosa oder abgedrehtem Radikalismus zu tun bekommt, auf der anderen Seite mit kulturkonservativer Phrasendrescherei oder kraftmeierischen Thesenbüchern.

So kommt Yascha Mounks kluges, maßvolles und lektürebewandertes Buch gerade recht, das sich mit den zentralen Prämissen von „Identitätspolitik“ auseinandersetzt, wozu ja etwa auch die Auffassung zählt, dass sich Argumente nicht unabhängig von Identität und Sprecherposition des Argumentierenden beurteilen lassen.

Yascha Mounk: „Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“. Klett Cotta, Stuttgart 2024, 512 Seiten, 28 Euro

Diese Kompliziertheit gilt nun plötzlich für das Buch selbst, denn knapp vor Erscheinen der deutschen Ausgabe erhob eine einstmalige Weggefährtin des Autors Vergewaltigungsvorwürfe gegen Mounk. Der weist die Vorwürfe „kategorisch“ von sich, dass es bei einem konsensualen Sleepover zu einem nichtkonsensualen Sexualakt gekommen wäre. Die Funktion Mounks im Herausgeberkreis der Zeit ist ruhend gestellt, das Magazin The Atlantic hat die Zusammenarbeit mit ihm fürs Erste sistiert.

Dass das Geschehen selbst je genau aufgeklärt wird, ist unwahrscheinlich, denn juristische Klärungen sind nicht in Sicht. Wie also umgehen mit so einem Buch? Werk und Autor einfach trennen? Versuchen wir es.

Massakrierte Partykids als Täter

Das Buch ist wichtig, nicht zuletzt, weil jüngst so sichtbar wurde, wie einige ideologische und theoretische Prämissen dessen, was Mounk die „Identitätssynthese“ nennt, ins vollends Bizarre führen.

Wenn die Welt in Schwarz-Weiß geteilt wird, wenn bekundet wird, dass „der Unterdrückte“ immer recht hat, dann kann man sogar bei einer kritiklosen Unterstützung von Gemetzeln der Hamas landen und bei Empathielosigkeit für Malträtierte, da ja der „Widerstand“ der „Kolonisierten“ immer ein authentischer Ausdruck berechtigter Rebellion ist, auch wenn Partykids vergewaltigt, verbrannt oder aufgeschlitzt werden.

Mounk nimmt sich ohne Polemik, dafür mit umso besonnenerer Kritik der theoretischen Grundlagen einer Ideologie an, die er mit dem Begriff „Identitätssynthese“ charakterisiert.

Mounk ist Politikwissenschaftler und Publizist, er ist eher ein (Links-)Liberaler, der aber aus der sozialdemokratischen Linken kommt (aus der SPD trat er wegen der Hinnahme der Krim-Annexion aus), er ist Jude, Pole, Deutscher und Amerikaner, was nicht nur eine lose Aufzählung von Identitätsmerkmalen ist, sondern: Mounk lebte und lebt in unterschiedlichen politisch-kulturellen Diskursordnungen und ist gut in Übersetzungsleistungen. Mit Büchern wie „Der Zerfall der Demokratie“ hat er seit Jahren Aufmerksamkeit erregt.

Theorien abgleichen

Seine These: Das, was man so salopp die „Identitätspolitik“ nennt, ist eine Synthese verschiedener Überzeugungen und Theorien (deshalb „Identitätssynthese“), die jede für sich im Einzelnen sehr inspirierend, oft plausibel, selten ganz falsch sind, die aber in Summe zu einem sektiererischen und absurden Extremismus amalgamisiert werden.

Für alle, die nicht jede Verästelung der neuesten Theorien verfolgt haben, ist das Buch auch noch extrem lehrreich.

Mounk seziert zeitgenössische, postmoderne Machttheorien, verschiedene Verästelungen der postkolonialen Theorien, er kaut an Edward Saids „Orientalismus“ herum, am „strategischen Essentialismus“ von Gayatri Chakravorty Spivak, an der Thematisierung der seelischen Verwundungen Unterdrückter und Unterprivilegierter, an „Klassismus“ und „Mikroaggressionen“ und an der „Critical Race Theorie“ und vielem mehr.

Mounk widmet sich den Theorien Michel Foucaults, dessen Machtanalyse gerade nicht die brutal repressiven, sondern die scheinbar neutralsten und unabhängigsten Institutionen kritisierte.

Bein Essentialismus landen

Er untersucht Theorien, die strukturellen Rassismus und subtile Benachteiligungen thematisierten, bis sie bei einem Essentialismus landeten, der proklamiert, nur Benachteiligte können aufgrund ihrer direkten Erfahrungen die unterdrückerische Realität begreifen, während alle anderen die Klappe halten müssen. Er untersucht einen Pessimismus, der davon ausgeht, dass sich Menschen unterschiedlicher Erfahrungen im Grunde nie echt verständigen können.

Mounk nimmt sich der argumentativen Fragwürdigkeiten von Theorien an, die quasi unfalsifizierbar sind, etwa wenn behauptet wird, dass alle weißen Menschen unabänderlich rassistisch sind, und eine Meinung, die diese These infrage stellt, eben nur ein Beweis für den Rassismus der widersprechenden Person sei.

Materialreich zeichnet Mounk nach, wie theoretische Konstruktionen, die alle mehr als „ein Körnchen Wahrheit“ enthalten, dann am Ende in einer sektiererischen Wahnidee münden können, etwa, dass eine Gruppe, die als historisch marginalisiert definiert wird, immer recht hat (egal, was im Namen dieser Gruppe getan wird).

All diese Theorien, die Richtiges zur Sprache bringen (etwa über „weißes Privileg“), eskalieren in ein konfrontatives Muster, also eine Rhetorik, die spaltet und unfähig ist, Allianzen zu bilden. Selbst der eigentlich Alliierte, der ein paar Dinge anders sieht, wird zum Feind erklärt. Mounk: „Um diese Ungerechtigkeiten zu erkennen – oder gegen sie ankämpfen zu wollen –, muss man kein Verfechter der Identitätssynthese sein.“

Sachlich versus moralisch

Mounk packt eben nicht den Bihänder aus, sondern macht deutlich: Jede dieser Theorien hat einen plausiblen Punkt, aber wenn man sie überdreht und radikalisiert zusammenmontiert, dann kommt nur fragwürdiges Zeug raus.

Dass die sektiererische Weltanschauung einen gewissen Stellenwert erlangen konnte, liegt auch daran, dass sie argumentativ so gebaut ist, dass sie Einwände nicht nur einfach als sachlich falsch abwies, sondern als moralisch verwerflich.

In einer packenden Passage des Buches berichtet Mounk über sozialpsychologische Experimente von Verhaltensökonomen, in denen eine beliebige politische Frage zunächst einzelnen Individuen ähnlicher Wertorientierung vorgelegt wurde. Sie wurden dann nach ihrer Meinung sowie zu Lösungsvorschlägen befragt.

Diese waren meist reformorientiert. Danach wurde dieselbe Frage ganzen Gruppen vorgelegt, und sie mussten in einer Diskussion ihre Meinung und ihre Vorschläge erarbeiten. Die Meinung war deutlich zorniger, erregter, radikaler und die Vorschläge waren weit weniger maßvoll.

„Gesetz der Gruppenpolarisierung“

Verhaltensökonomen nennen das „das Gesetz der Gruppen-Polarisierung“. Die Gefahr besteht dann, dass durch gegenseitiges Anstacheln eine Dynamik überzogener Selbstradikalisierung einsetzt, aber das „muss nichts Schlimmes sein“ (Mounk).

Allerdings haben Verhaltensforscher im Nachgang auch noch etwas anderes herausgefunden. Wenn es sich um eine politisch-sachliche Streitfrage handelt und eine Gruppe überbietet sich in immer radikaleren Ansichten, dann melden sich irgendwann einmal dissidente Stimmen aus der Gruppe selbst, die anmerken: „Übertreiben wir jetzt nicht?“

Ist aber die Fragestellung selbst schon moralisch aufgeladen, sodass selbst dieser Einwand diskreditierbar ist, dann bleiben die abweichenden Stimmen stumm und die Gruppenradikalisierung geht ungebremst weiter.

Simpel gesagt: Wenn die These lautet, dass alle weißen Menschen immer Rassisten sein müssen, und erwartbar ist, dass ein Einwand gegen diese These als „typische Blindheit weißer Rassisten ihrem eigenen Rassismus gegenüber“ diskreditiert wird, dann wird dieser Einwand nicht mehr vorgetragen. Einfach aus Angst, moralisch erledigt zu werden. Der gelegentliche Vorwurf an Linke, sie würden „moralisieren“, bekommt hier einen bedenkenswerten Kern.

Yascha Mounk gelingt es, die Übertreibungen und Verrücktheiten des an sich Richtigen auf kluge Weise zu zerlegen und im nervigen „Pro“- und „Anti-Woke“-Geschrei den richtigen Ton zu treffen, der solidarische Einwände und scharfe theoretische Kritik zu kombinieren weiß. Der Rest von der „Identitätspolitik“-Bibliothek kann jetzt weg.

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