Bücher im Gespräch
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Benny Morris: „1948: Der erste arabisch-israelische Krieg“. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024, 646 Seiten, 32 Euro

Philipp Lenhard:

„Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule“. C. H. Beck, München 2024, 624Seiten, 34 Euro

Lea Ypi: „Die Architektonik der Vernunft“. Aus dem Englischen von Antonia Grunert. Suhrkamp, Berlin 2024, 245 Seiten, 22 Euro

Franz Dobler: „Ein Sohn von zwei Müttern“. Tropen Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 22 Euro

Nora Krug: „Im Krieg. Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“. Penguin Verlag, München 2024, 128 Seiten, 28 Euro

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Rowohlt, Hamburg 2024, 304 Seiten, 22 Euro

Antizionismus gehört im Kulturbetrieb gerade zum guten Ton. Oft macht er blind für Antisemitismus. Mythen, Falschbehauptungen, einseitige Täter-Opfer-Konstruktionen – gegen all das hilft nur Wissen. Als einer der „Neuen Historiker“ hat Benny Morris das Standardwerk über die Gründung des Staates Israel vorgelegt: Vom Bürgerkrieg im britischen Mandatsgebiet 1947 über den Angriff arabischer Staaten auf Israel – ein unbedingt lesenswertes Buch, endlich auf Deutsch! Tania Martini

Hans-Gerd Koch (Hg.): „Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“. Wagenbach, Berlin 2024, 208 Seiten, 38 Euro

Timon Karl Kaleyta: „Heilung“. Piper, München 2024, 208 Seiten, 22 Euro

Alexandra Schauer: „Mensch ohne Welt“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 704 Seiten, 34 Euro

Frank Bösch: „Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“. C. H. Beck, München 2024, 622 Seiten, 32 Euro

Montserrat Roig: „Die Frauen vom Café Núria“. Deutsch von U. Bachhausen und K. Brandt. Kunstmann, München 2024, 219 S., 24 Euro

Ilona Hartmann: „Klarkommen“. Ullstein, Berlin 2024, 192 Seiten, 22 Euro

Wie keine andere Schule prägte die Frankfurter Schule die Debatten des 20. Jahrhunderts. Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse, später Habermas – alle haben sich an ihnen abgearbeitet, ohne sie und das Frankfurter Institut für Sozialforschung wäre sogar Marx womöglich einfach auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Philipp Lenhard hat in einer fulminanten „raum- und netzwerkgeschichtlichen ­Erzählung“ die Genese des Instituts der Kritischen Theorie vorgelegt. Sehr klug und gut lesbar obendrein! Tania Martini

Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist das wirkmächtigste Werk des Philosophen. Und sehr schwer zu lesen. Als eine der dichtesten und rätselhaftesten Passagen gilt die „Architektonik der Vernunft“, die Kommentatoren in der Regel übergangen haben. Die Philosophin Lea Ypi nimmt sich dieses kurzen Abschnitts ausführlich an, um zu zeigen, wie fundamental Kants Idee einer „Einheit der Vernunft“ in theoretischer und praktischer Hinsicht für sein gesamtes Projekt ist.Tim Caspar Boehme

Franz Doblers Roman handelt von einem spezifischen existenziellen Problem – ein Adoptivkind zu sein. Das Besondere, das Individuelle zeigt sich an der Frage, was es heißt, in einer ­kleinbürgerlichen Familie in einer konservativen oberbayerischen Kleinstadt in den 1960er Jahren aufgewachsen zu sein. Der sensible Junge versteht intuitiv, dass mit der Gesellschaft etwas nicht stimmt. So streng er gegen jeden Kitsch ist, so offen bleibt Dobler in jedem Satz für Gefühle. Ulrich Gutmair

Die deutsch-amerikanische Illustratorin Nora Krug hat ein Jahr lang eine ­ukrainische Journalistin und einen russischen Künstler begleitet. Ihre zwei völlig unterschiedlichen Leben im Krieg stellt sie in einem illustrierten Tagebuch gegenüber, das, Woche für Woche in der Los Angeles Times veröffentlicht, nun als Graphic Novel vorliegt. Ein berührendes Buch über den Alltag im Krieg, im dem es für die Ukrai­ne­r:in­nen um die Existenz geht. Tania Martini

Das Liberal Arts College in Grinnell, Iowa, hat die ­gefeierte Wiener Autorin Stefanie Sargnagel eingeladen, im Sommersemester 2022 ein Humorseminar abzu­halten; Christiane ­Rösinger wird auf dem Campus ein Konzert geben mit ihren Indie-Chansons. Nun hat Sargnagel ihre Erlebnisse in Buchform aufge­schrieben – ergänzt durch einige kratzbürstige Fußnoten von Rösinger. Dank Sargnagels Witz und Beobachtungsgabe enttäuscht dieses spezielle Reisetagebuch nicht. Nina Apin

Am 3. Juni jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum 100. Mal. Als Einstieg in das Gedenken eignet sich dieser schöne Fotoband, der den Familienhintergrund des Prager Schriftstellers überraschend ausleuchtet. In seiner großen Kafka-Biografie hat Reiner Stach von einer „autoritär organisierten Familie“ geschrieben. Aber innerhalb dieser Familienorganisation gab es offensichtlich Lücken, freie Momente, Hohlräume für Austausch und tatsächliches Interesse aneinander.

Dirk Knipphals

Diese Antiheldenreise eines verunsicherten Mittdreißigjährigen changiert fröhlich zwischen Thriller, Pop­roman und Räuberpistole. Anders gesagt: Hier gibt es endlich mal wieder Action! Der Autor ist mit einer Gabe gesegnet, die in der Prosa seltsamerweise zuletzt kaum kultiviert wurde: Er verfügt über Originalität. Diese Heldenreise ist nicht nur ein großer Spaß, sondern enthält auch eine Warnung vor dem gerade sehr virulenten Wunsch, sein Selbst zu erkunden, Frieden mit sich zu schließen. Michael Wolf

Anknüpfend an Fredric Jameson fragt die Soziologin Alexandra Schauer, warum die Mehrheit der Menschen sich heute eher ein apokalyptisches Ende der Welt als eine Alternative zum Kapitalismus vorstellen kann. Woher dieser Defätismus bezüglich der Gestaltbarkeit der Welt? Entlang des Wandels der Zeiterfahrung, der Öffentlichkeit und der Stadt analysiert Schauer die spätmoderne Vergesellschaftung des Individuums. Eine wirklich brillante Studie! Tania Martini

Demokratisierung, West­bindung, Menschenrechtspolitik, das ist die Erzählung, die sich die Bundesrepublik gerne gibt. Doch wie sieht die andere Seite aus, was resultiert aus dem Vorrang des Ökonomischen in der Außenpolitik? Jede Menge Deals mit Autokratien und Atomkraftwerke für die Mullahs. Der Zeithistoriker Frank Bösch geht den Widersprüchen der deutschen Außenpolitik auf den Grund. Mit ernüchterndem bis erschreckendem Ergebnis. Tania Martini

Der Roman ist der Auftakt einer Trilogie, die Montserrat Roig in den Siebzigern verfasst hat und die erstmals auf Deutsch veröffentlicht wird. Darin geht die zeit ihres Lebens in Barcelona lebende Schriftstellerin den Schicksalen einer Handvoll Frauenfiguren in zwei versippten Familien­dynastien nach und taucht in die Geschichte der katalanischen Metropole ein. Roig erzählt die Geschichte weiblicher Selbsterfahrung in einer männerdominierten Welt. Thomas Hummitzsch

Ilona Hartmann begreift von ihrem Jahrgang mehr als einige Regalmeter Sachbücher. „Klarkommen“ entfaltet sich zu einem Miniatur-Generations­porträt und einem vorsichtig-rebellischen Anti-Roman, der die Erwartung eines filmreifen Lebens schlau und witzig gegen sich selbst ins Feld führt. Damit schafft es Hartmann, dass sich ihre vorgeblich nicht erzählenswerten Anekdoten in eine wunderbar erzählte Geschichte verwandeln. Konstantin Nowotny