Grass-Ausstellung in Lübeck: Tanz den Literaturnobelpreisträger

Günter Grass und das Tanzen ist das Thema einer Ausstellung in Lübeck. Da ist eine Mini-Love-Parade zur Eröffnung doch nur folgerichtig. Oder?

beschwingtes Tanzen

Ute und Günter Grass tanzend Foto: Robert Lebeck

Norddeutsche Stadtentwicklung in der Nussschale: „Früher wurden hier Schiffe gebaut“, schreiben die Be­trei­be­r:in­nen der Gollan Kulturwerft – „heute sind die alten Werfthallen der Kulturstandort in Lübeck“. Das „der“ muss dabei wohl bedeutungsschwer ausgesprochen werden, denn so wenige „Kulturstandorte“ gibt es ja gar nicht in der backsteinschönen Hansestadt – allein der Literatur sind hier zwei Ausstellungshäuser gewidmet. Gut: Das Buddenbrook-Haus kriselt derzeit etwas, und ganz unproblematisch ist der Hausherr und Namensstifter der anderen Institution auch nicht: Günter Grass (1927–2015).

Für manche jedenfalls hat der Ruf des Literaturnobelpreisträgers von 1999 doch erkennbar Schaden genommen durch seine sehr spät öffentlich thematisierte Waffen-SS-Mitgliedschaft und sein Israel zum potenziellen Kriegstreiber stilisierendes Gedicht von 2006. (Dass es manchen sich Empörenden sehr gelegen gekommen sein muss, dem überzeugt sozialdemokratischen Verfasser der „Blechtrommel“ als verlogenem Gutmenschen am Zeug flicken zu können: Das wäre heute nicht anders.)

Grass Tanzbar – oder tanzbar? ist die soeben eröffnete Sonder­ausstellung im Lübecker Günter-Grass-Haus betitelt. Bis Anfang kommenden Jahres zeigt sie Manuskripte, Grafiken, Lithografien und Plastiken zum Thema Tanz. Das Zentrum bildet eine Drehbühne mit, eben, einer Bar.

Nicht überraschend, dass sie in Lübeck wohlwollender auf Grass blicken, der ab 1987 etwa 25 Kilometer südlich im Kreis Ratzeburg lebte. Seit 2002 würdigt ein – ausdrücklich unabhängiges – „Günter Grass-Haus“ auch das malerische und plastische Schaffen des gebürtigen Danzigers. Untergebracht ist die Einrichtung in dem Haus in der Glockengießerstraße, in dem er zwei Jahrzehnte lang Sekretariat und Archiv unterhalten hatte.

Dort gibt es einen sehr schönen, idyllischen Innenhof. Aber als nun die Vernissage für die neue Sonderausstellung „Grass tanzbar“ auszurichten war, ging man dafür vom kleinen eigenen Museum eben in die „Kulturwerft“.

Immer wieder übers Tanzen geschrieben

Denn so kurios das Thema der Schau vielleicht wirken mag, wollte man es doch umso mehr krachen lassen. Aber was heißt kurios? Günter Grass soll ein begeisterter Tänzer gewesen sein, seine erste Ehefrau Anna jedenfalls hatte es richtiggehend gelernt. Auch geschrieben hat der Schriftsteller immer wieder übers Tanzen.

Entsprechend zusammengestellte Textstellen – von Grass, klar, aber etwa auch Karoline von Günderrode, Mascha Kaléko und Ralf Rothmann – trugen vor voller Halle jetzt Die Spielkinder vor. Das sind die Schauspielerin Lina Beckmann, ihre Geschwister Maja und Till sowie dessen Ehefrau Jennifer Ewert. Na gut: Charly Hübner, Lina Beckmanns Mann und eine Art Star, war auch dabei.

Dieser gut gelaunte Fami­lienbetrieb also begleitete sich selbst dann und wann musikalisch. Irgendwann kam noch die Seiltänzerin Ea Paravicini hinzu, übte ihre Kunst nervenschonenderweise aber nur zwei Meter über dem Boden aus.

Dazu anständigen Weißwein

Dass eine im Spielkinder-­Programm nun nicht berücksichtigte Textstelle Grass’ ­Faszination für die Love Parade abbildet – zu finden im Buch „Mein Jahrhundert“ (1999) –, führte zum vielleicht kuriosesten Programmpunkt: Love-­Parade-Gründer Dr. Motte war für ein Zwei-Stunden-Set gewonnen worden, mithin der Head­liner des Eröffnungsabends.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es schlossen sich also allerlei Kreise; darin, dass Techno, andernorts längst Museums­objekt, auf eine Art an seine Ursprünge zurückkehrte, nämlich in umgenutzte Industriearchitektur, kann man ja auch als so einen erkennen. Natürlich ist eine schmuck hergerichtete Event-Immobilie nicht dasselbe, wie es wirklich sich selbst überlassene Ex-Industrie- oder Militäranlagen sind. Nein, hier traf die frisch zum immateriellen Unesco-Kulturerbe gewordene „Technokultur in Berlin“ auf das höchst materielle Welterbe namens Lübeck (seit 1987 gelistet), und dazu gab es anständigen Weißwein.

Überraschen konnte, wie begeistert sich hier weiß Gott nicht mehr jugendlich-überschwängliche Be­su­che­r:in­nen motivieren ließen von Mottes Bewegungsangebot.

Günter Grass konnte aus ­gegebenem Anlass selbst nicht mehr mitraven – wenn das ohne die Option auf eine ganze ex­zessive Nacht überhaupt so heißt.

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Wollte irgendwann Geisteswissenschaftler werden, ließ mich aber vom Journalismus ablenken. Volontär bei der taz hamburg, später auch mal stv. Redaktionsleiter der taz nord. Seit Anfang 2017 Redakteur gerne -- aber nicht nur -- für Kulturelles i.w.S.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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