Basketball in Sachsen: Die lange Bescheidenheit

Die Chemnitz Niners haben gute Chancen, das Finale des Fiba Europe Cups zu erreichen. Mittlerweile kann der Club langfristig planen. Ein Ortsbesuch.

Trainer Rodrigo Pastore vom Basketballclub Niners Chemnitz

„Vielleicht sind wir zu schnell zu groß geworden“: Trainer Rodrigo Pastore instruiert seine Chemnitz Niners Foto: Fotostand/imago

Rodrigo Pastore schaut grimmig drein. Dann fragt er den Journalisten der Freie Presse, wie die Überschrift seines Artikels bezüglich des just verlorenen Heimpiels gegen Alba Berlin laute. Thomas Reibetanz sagt: „Die Niners verlieren auch das vierte Topspiel“. Im sehr spärlich besetzten Raum der Pressekonferenz beginnt nun ein seltenes Schauspiel. Der Gästetrainer ist noch nicht da, und so führt Pastore, der Trainer der Niners Chemnitz, ein anklagendes Selbstgespräch. Oder ist es eine kritische Bilanz seiner neun Jahre Chemnitz?

Der Sermon richtet sich halb an Reibetanz, halb an die ganze Welt. „Soso“, sagt der Argentinier mit der Glatze, „wir haben also nur vier Topspiele in der Saison, und die anderen zählen anscheinend nicht?!“ Die Botschaft wolle er bestimmt nicht vermitteln, entgegnet der Sportreporter. „Ach, ich rede nur so für mich hin, ich gebe nur eine Pressekonferenz vor der Pressekonferenz, und wer zuhören will, kann das tun, ansonsten spreche ich nur zu mir.“ Der Trainer schaufelt seinen Frust in den Raum. Die Abraumhalde wird größer und größer. Irgendwann sagt der 51-Jährige: „Vielleicht sind wir zu schnell zu groß geworden, wir müssen bescheiden bleiben.“ Humble. Das Wort fällt einige Male.

Pastore nimmt Niederlagen persönlich. Er will immer gewinnen, immer besser werden. Das war schon als Spieler in Bonn oder Ragusa so. Jetzt treibt er seine Profis, ja den gesamten Klub an. Vorm Spitzenspiel gegen die Berliner standen die Sachsen auf Platz eins der Tabelle. Aktuell sind sie Zweiter. So oder so, sie spielen um die Meisterschaft mit. Die Niners konkurrieren nun mit Bayern München und Alba Berlin, den deutschen Basketballriesen. Geschlagen haben sie die härtesten Konkurrenten schon, aber noch nicht in dieser Saison. Die Euroleague-Teams verfügen über einen drei- bis viermal höheren Etat als die Niners Chemnitz, die international im drittklassigen Fiba Europe Cup spielen.

Aber auch in diesem Wettbewerb sorgen die Niners für Aufsehen. Am Mittwoch haben sie Bilbao im Halbfinale auswärts geschlagen. Das Spiel zeigte sinnbildlich, was die Niners stark macht: Im ersten Viertel heillos hinten, ziehen sie sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel. Sie rackern, arbeiten, kämpfen – und der Beobachter staunt über dieses Comeback des puren Wollens; Pastore findet endlich nach zig Versuchen die richtige Formation, und ab da läuft es: 98:73 in fremder Halle. Der Finaleinzug am kommenden Mittwoch (19 Uhr, Livestream im MDR) scheint jetzt nur noch Formsache zu sein. Der Titel ist greifbar, offensichtlich leichter zu holen als die Deutsche Meisterschaft.

Basketball und das andere Chemnitz

Gegen Alba reicht es trotz eines Aufbäumens in den letzten drei Minuten nicht mehr zum Sieg. Die 5.000 Zuschauer in der Messehalle Chemnitz stehen trotzdem und applaudieren, so wie sie es fast das gesamte Spiel über getan haben. Karli, das Maskottchen, plüschiges Zitat an die Zeit, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß und die Nomenklatura einen „Nüschel“ des Philosophen in der Innenstadt aufstellte, schlurft noch einmal übers Parkett.

CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, den das Publikum gar nicht unfreundlich willkommen hieß (wie früher übrigens auch Bundeskanzlerin Angela Merkel), erhebt sich von seinem Platz hinter dem Anschreibetisch. Ein paar Caipirinhas gehen an der „Cocktailbar“ für 8,50 Euro über den Tresen. Eine Familie isst Lángos, und spätestens jetzt weiß man, woher der Frittendunst kam, der durch die gesamte Halle waberte und sich mit dem Schweiß der Spieler mischte.

Basketball ist in Chemnitz zum Event geworden. Der Sport ist Stadtgespräch. Er gibt Chemnitz ein gutes Gefühl. Und nicht zufällig trainieren die Niners unter der Woche im Feelgood-Club. Die Stadt braucht dringend Hoffnung und Zuversicht. Wer nie hier war und sich nur aus den Medien über die Stadt an den Ausläufern des Erzgebirges informierte, der konnte den Eindruck gewinnen, Chemnitz sei eine Nazi-Hochburg, hier würden im Wochenrhythmus Ausländer durch die Stadt gejagt – und in der Anhängerschaft des Chemnitzer FC materialisiert sich all das zu einer unguten, braunen Melange.

Chemnitz schleppt Ballast herum

Keine Frage, Chemnitz schleppt Ballast mit sich herum: Braindrain, also eine krasse Abwanderung von Talenten, hat die Stadt ausbluten lassen. Das Stadtbild ist eine triste Tuschezeichnung. Verfallene, aufgelassene Gebäude findet man an fast jeder Ecke, viele Viertel wirken merkwürdig unbelebt. Der Charme der Stadt vermittelt sich nicht auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten. Die aber immer wieder aufploppende unvermittelte Herzlichkeit und Offenheit der Chemnitzer machen dann doch neugierig, wie es sich in dieser Stadt leben lässt, immerhin Kulturhauptstadt 2025. Noch so ein Hoffnungsschimmer.

Steffen Herhold über das Potenzial von Chemnitz

„Die Stadt wurde für eine halbe Million Menschen angelegt“

Während andere Städte im Osten, Görlitz oder Erfurt, wieder erstrahlen, zumindest architektonisch, sieht man Chemnitz einen Rückstand von zehn oder fünfzehn Jahren an. Steffen Herhold, Geschäftsführer der Niners, nimmt gerne an, was man so über Chemnitz denkt. Er will wissen, wie man die Stadt von außen sieht, um daraus zu lernen. Die Niners sind für Herhold, der in Chemnitz geboren und dann in den Westen gegangen ist, um wie so viele aus seiner Generation Chancen zu suchen, ein Projekt, „ein Start-up“. 2015 hat ihn ein Anruf aus der Heimat erreicht. Er würde hier gebraucht. Man hätte Großes mit den Niners vor. Steffen Herhold sagte zu. Im Westen war Herhold ersetzbar, einer von vielen. In Chemnitz nicht.

Gegen die Kennzeichnung „Lokalpatriot mit Visionen“ hat er nichts, im Gegenteil, sie gefällt ihm. Mangementposten mit strategischer Ausrichtung, die Herhold interessiert hätten, gab es damals nicht viele in Chemnitz, und so hat sich der nun 46-Jährige einen Job geschaffen, der ihn angemessen herausfordert. Er betont das Potenzial dieser Stadt, „die einmal für eine halbe Million Menschen angelegt wurde, mit Infrastruktur, mit allem. Es ist eigentlich alles da.“

Über 200 Sponsoren hat er überzeugt, den Niners Geld zu geben, mal 10.000 Euro, mal 20.000. Mit strahlenden Augen kann er das Geschäftsmodell von Staffbase, dem Trikotsponsor, erklären und wie er eine ganze Stadt, nun ja, ninerisiert hat. Die Niners versprechen Wachstum. Schritt für Schritt geht es voran, und wenn man die Verantwortlichen im Verein, allen voran Steffen Herhold so hört, dann sind die Basketballer noch längst nicht am Ende ihres Wegs.

Sponsor, Halle, ökonomische Unabhängigkeit

Eine richtig gute Halle hätten sie gern. Die Planungen dafür sind seit einem Jahr angelaufen. Mit dem Land Sachsen und der Stadt Chemnitz ist man auf der Suche nach einem geeigneten Standort. Ein Großsponsor wäre auch nicht schlecht, aber da hat Steffen Herhold seine Vorbehalte. Die Abhängigkeit sei dann wohl zu groß, findet er. Am Beispiel der Basketballstandorte Bonn und Gotha habe man gesehen, wohin das führen könne. „Best of the Rest“ möchten die Niners Chemnitz mittelfristig werden, also das beste Team hinter den Bayern und Alba. Ein Platz in der Euroleague sei freilich unrealistisch, weil die Region dann doch zu strukturschwach ist.

Es ist bestimmt besser, dass Rodrigo Pastore diesen Satz von Steffen Herhold, gefallen in der Geschäftsstelle an der Annaberger Straße, nicht hört, denn 15 Fahrradminuten entfernt, recht hübsch gelegen am Grüngürtel des Flüsschens Chemnitz, wirbelt er gerade wieder im Feelgood-Club, treibt seine Spieler an. Den Fremdling in der Halle erspäht er natürlich sofort, checkt ab, was Sache ist. Nach dem eigentlichen Training werfen seine Jungs einfach weiter.

Es ist ausgemachte Sache: Wer mehr will, muss mehr machen. Auch DeAndre Landsdowne schuftet noch ein bisschen. Der US-Amerikaner wirft Dreier. Acht von zehn Fernwürfen gehen rein in die Reuse. Der 34-Jährige wirft den Ball im hohen Bogen auf den Korb. Das sieht nicht nur schön aus, sondern erhöht auch die Trefferwahrscheinlichkeit.

DeAndre Landsdowne ist der Leader im Team, und neben Pastore der einzige, der noch einen Vertrag über die Saison hinaus besitzt. Im Basketball ist es üblich, Ein- oder Zweijahresverträge zu unterschreiben, was zu einer starken Fluktuation führt. Im Sommer wird es wieder viele Wechsel und neue Gesichter in Chemnitz geben.

Landsdowne, dessen Karriere nicht immer geradlinig verlief, sieht darin das Positive: „Ich freue mich, neue Typen kennenzulernen, das wird bestimmt spaßig.“ Auch Rodrigo Pastore geht mit den jährlichen Brüchen pragmatisch um. So sei das Geschäft nun einmal: Der eine geht, der andere kommt. Landsdowne ist mindestens noch ein Jahr in Sachsen, seine Frau auch. Sie findet es manchmal schwierig, hier zu leben, vor allem die Wintermonate ziehen sie, die so gern im heimischen San Diego wäre, doch ziemlich herunter.

DeAndre Landsdowne selbst kann das Umfeld gut ausblenden. „Ich habe meine Routinen, und die ziehe ich tagtäglich, egal, wo ich bin, gnadenlos durch.“ Ein Profi mit Plänen. „Ich bin hier noch nicht fertig“, sagt er. Das ist offensichtlich niemand bei den Niners Chemnitz.

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