Bewaffnung von Zivilisten in Israel: Bürger mit Gewehren

Seit dem 7. Oktober gründen sich in Israel immer mehr jüdische Milizen. Für einige bringt das ein Gefühl von Sicherheit, für viele andere Angst.

Drei Bewaffnete Männer in einem Geschäft

Chaim Messika (Mitte), hier mit Mitgliedern des Notfallkommandos in Jerusalem Foto: Andrea Krogmann/kna

GILO/ BETLEHEM taz | Mosche rückt sein ­Maschinengewehr zurecht und zeigt mit dem Finger einmal im Kreis auf die umliegenden Hügel. „Wir sind umzingelt von Feinden“, sagt der Rechtsanwalt und An­führer des zivilen Notfallkommandos von Gilo bei Jerusalem. Auf seiner Mütze steht „Polizei“, er trägt eine olivgrüne kugelsichere Weste. Auf seinen Befehl stürmt ein Dutzend schwer bewaffneter junger Männer die Eingangshalle der ­Synagoge der Siedlung. Die Freiwilligen haben sich nach dem Überfall der ­Hamas im Oktober zusammengetan und trainieren für den Fall eines Terrorangriffs.

Nach den Massakern der Hamas im Süden des Landes mit mehr als 1.100 toten Israelis und rund 250 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln blieben die befürchteten Zusammenstöße zwischen arabischen und jüdischen Israelis aus. Trotzdem ist für viele in Israel das Gefühl von Sicherheit dahin. Ende vergangenen Jahres gab jeder zweite jüdische Israeli bei einer Umfrage des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien an, Angst vor Angriffen arabischer Mitbürger zu haben.

Mehr als 900 Bürgermilizen, auf Hebräisch „Kitat Konenut“, gründeten jüdische Israelis seitdem im ­ganzen Land. Wie hier in Gilo, das gleichzeitig ein Stadtteil von Jerusalem ist und eine völkerrechtlich illegale Siedlung im is­rae­lisch besetzten Westjordanland. Aber auch im weltoffenen Tel Aviv, in Aschkelon und Hunderten weiteren Orten des Landes gibt es seither solche schwer bewaffneten Notfallkommandos.

Mosche, ein muskulöser Mann mit Vollbart und Schläfenlocken, möchte seinen Nachnamen für sich behalten. Er war mal Sozialarbeiter, heute vertritt er als Anwalt Minderjährige, die nicht mehr bei ihren Familien leben können – wenn er gerade keine Kampfausrüstung trägt. Bis 2003 diente er in einer Spezialeinheit der Armee, vor allem im Gazastreifen.

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Bewaffnete Bürgerwehren

Am 7. Oktober waren es in mehreren Ortschaften die Wachteams der Kibbuzsiedlungen, die die Angreifer der Hamas aufhalten konnten, bis Soldaten eintrafen. Während seine Männer Raum für Raum der Synagoge durchkämmen, sagt Mosche: „Es reicht nicht mehr, dass wir eine Armee haben. Alle Bürger müssen jetzt dort, wo sie leben, eine Armee sein.“ Gemeint sind jüdische Bürger. Die rund 20 Prozent arabische Israelis sind von den Bewaffnungen im Schnellverfahren schon deshalb ausgeschlossen, weil sie anders als ihre jüdischen Mitbürger in der Regel keinen Wehrdienst geleistet haben.

Die etwa 15 Männer der Schutztruppe, zur Hälfte religiöse Juden, zur Hälfte säkulare, haben sich in der Eingangshalle des Gebäudes gesammelt. Viele tragen zusätzlich zum Sturmgewehr noch eine Handfeuerwaffe oder ein Messer am Gürtel. Stufe für Stufe steigen sie in Grüppchen in die engen Gänge des Bunkers unter der Synagoge hinab. Gedämpft dringen ihre Rufe nach oben: „Raum links, sauber.“ „Zwei nach rechts.“

Ursprünglich kommen die bewaffneten Bürgerwehren aus den Tagen vor Israels Staatsgründung, als viele jüdische Gemeinden zur Verteidigung gegen ihre arabischen Nachbarn bewaffnete Gruppen aufstellten. Nach 1948 verloren sie an Bedeutung. Die Einheiten sollen im Falle eines Angriffs als Reserve für die Polizei eingesetzt werden. Die Tausenden Freiwilligen werden dafür in Abstimmung mit den lokalen Polizeidirektionen koordiniert, trainiert und ausgerüstet. Vor dem Gazakrieg gab es weniger als einhundert von ihnen, vor allem in besonders gefährdeten Dörfern und Städten, etwa an der Grenze zum Gazastreifen sowie im Westjordanland.

Am 19. Oktober weitete der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, selbst ein Siedler und Rechts­extremer, die Liste gefährdeter Ortschaften deutlich aus. Dazu ließ der Scharfmacher, der als junger Mann Parolen wie „Tod den Arabern“ rief, sich medienwirksam beim Verteilen Dutzender Maschinengewehre fotografieren. Die Voraussetzung für Mitglieder ist vor allem, den Wehrdienst in der Armee abgeschlossen zu haben. Das trifft wegen der allgemeinen Wehrpflicht auf fast alle jüdischen Israelis zu.

Sorge um vulnerable Gruppen

Der Anwältin Anne Suciu von der israelischen Bürgerrechtsbewegung ACRI bereitet das Sorgen. „Von einem Moment auf den anderen haben Hunderttausende Menschen potenziell Zugang zu schweren Waffen bekommen.“ Zusammen mit der massiv gestiegenen Zahl an privaten Pistolen liege darin eine Gefahr für besonders vulnerable Gruppen: Frauen, psychisch instabile Menschen, Minderheiten.

Dass die bewaffneten Hilfspolizisten auch Patrouillen unternehmen können, sei vor allem für die 20 Prozent israelische Araber eine Gefahr. „Die Gesellschaft sieht Palästinenser zunehmend als Bedrohung.“ Die Hemmschwelle für Schüsse sinke. Gleichzeitig haben arabische Ortschaften in der Regel nicht die Möglichkeit, Sicherheitsteams aufzustellen. „Du kannst in derselben Region jüdische Dörfer finden, die eine Kitat Konenut aufstellen, und direkt daneben Orte, die das nicht können“, sagt Anwältin Suciu.

Geht es nach Mosche in Gilo, soll das auch so bleiben: „Ich habe am 7. ­Oktober als Erstes die Türe abgeschlossen, als ich hörte, dass Araber in jüdische Dörfer eingedrungen sind“, sagt er. Seitdem haben mehr als 300.000 Israelis ­Waffenlizenzen beantragt, vor dem Krieg waren es 150.000 Besitzer privater Waffen. Rund 80.000 Anträge wurden bereits im Eilverfahren genehmigt. Der zuständige Minister Ben-Gvir hatte die Regelungen dafür so weit er­leichtert, dass israelische Journalisten zwischenzeitlich mit einem Telefonanruf eine Waffenlizenz erhielten. Auch hier schließen die Vorgaben nichtjüdische Bewerber weit­gehend aus.

Vom Vorplatz der Synagoge in Gilo fällt der Blick auf die benachbarten Ortschaften zwischen den olivgrün bewachsenen Hügeln um Jerusalem: Nördlich von Gilo liegen die arabischen Ortsteile Scharafat und Beit Safafa, im Süden beginnen wenige Hundert Meter entfernt hinter der meterhohen israelischen Sperranlage die palästinensischen Städte Bait Dschala und Bethlehem im Westjordanland.

Auf der anderen Seite der Betonmauer

„Wenn du von hier runterschaust, siehst du Kirchen und Moscheen, aber das ist nicht das ganze Bild“, sagt Mosche. Stattdessen würden sie in Bethlehem Bilder von „Terroristen“ aufhängen und Hakenkreuze an die Wände malen. Das habe er selbst bei Google Street View gesehen. Selbst dort gewesen sei er noch nie. In Europa und den USA würden das viele nicht verstehen. „Zwischen Teheran und Washington liegen 10.000 Kilometer, aber von hier bis zu unseren Feinden ist es einen Kilometer.“

Auf der anderen Seite der acht Meter hohen Betonmauer in Bethlehem schenkt Suhail Khalilieh schwarzen Kaffee ein. Vom Büro des 54-Jährigen fällt der Blick auf die Siedlung Har Choma, deren Gebäude wie eine Festung auf dem Hügel neben Gilo stehen. „Viele Palästinenser in den besetzten Gebieten haben Angst“, sagt der politische Analyst, der seit 20 Jahren für das palästinensische Institut für angewandte Forschung (ARIJ) die Entwicklung israelischer Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten beobachtet.

Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 400 Palästinenser von israelischen ­Sicherheitskräften oder Siedlern getötet, die meisten bei Razzien, eigenen Anschlägen oder Zusammenstößen. Seit 2016 zählt der Experte 6.000 gewaltsame Übergriffe durch Siedler, ein Drittel davon alleine seit Januar 2023. Sie reichen von Angriffen auf Hirten über Brandstiftung bis zu bewaffnetem Eindringen in palästinensische Ortschaften. Vor dem 7. Oktober habe die Armee noch mitunter mäßigend eingegriffen, nun handelten die Soldaten meist nur noch, wenn Israelis bedroht würden.

Waffen in den Händen von jüdischen Zivilisten sind im Westjordanland laut Khalilieh dabei nichts Neues. Zugenommen habe die Bewaffnung massiv, seit vor rund 15 Jahren in mehreren Siedlungen Trainingszentren eröffnet wurden, in der Regel geleitet von früheren Militärs. Zunächst seien die Schießbahnen vor allem für die Sicherheitsteams der Siedlungen gewesen. Über die Jahre seien sie für Besucher und schließlich für gewöhnliche Touristen geöffnet worden.

Beim Kampfsport und Schießtraining

Mit „Commando Tourism“ wirbt das Antiterrortrainingszentrum ­Caliber 3 in der Siedlung Gusch Etzion südlich von Bethlehem. Unter den Angeboten finden sich auf der Website ein „­Teenager-Sommerlager“ für Jungen zwischen 15 und 17 Jahren. Auf dem Programm stehen Kampfsport, Schießtraining sowie jüdische Geschichte. Die Fotos und Videos zeigen Minderjährige in paramilitärischen Uniformen mit Luftdruckgewehren.

Wer sich der Anlage auf einer Hügelkuppe nähert, hört schon aus der Entfernung das scharfe Peitschen der Schüsse. Hinter einem mit Stacheldraht gesicherten Tor herrscht reger Betrieb. Männer und Frauen mit Maschinengewehren und in Tarnkleidung laufen zwischen den Schießbahnen hin und her. Unter einem Pavillon liegt ausreichend Schutzausrüstung, um einen ganzen Zug Soldaten auszustatten.

Vor einem der Bürocontainer wartet eine Gruppe junger Frauen in der Uniform der israelischen Grenzpolizei, ­dazwischen laufen Männer in olivgrüner Kleidung. Bei vielen Gästen wird nicht auf den ersten Blick klar, ob sie Soldaten oder private Besucher sind. Zu den Kunden gehört laut Angaben der Betreiber auch die israelische Armee und die Polizei. Der dazugehörige Laden bietet von Uniformen über Messer bis zu Waffen und Munition ein breites Angebot. Alle Trainings und Verkäufe fänden „im Rahmen der is­rae­li­schen Waffengesetze statt“, heißt es im Büro.

Wer sich der Anlage nähert, hört schon von fern das scharfe Peitschen der Schüsse

Auch in Gilo betont man die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden: „Wir sind ein demokratisches Land und wollen keine unkontrollierten Milizen“, sagt Chaim Messika, der als Freiwilliger die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und rund zwei Dutzend Sicherheitsteams in Jerusalem koordiniert. Doch solange die Bedrohung durch militante Palästinenser nicht beseitigt sei, gebe es zur Bewaffnung der Bevölkerung keine Alternative, sagt der stämmige Mann: „Wir sind Juden, keine Christen. Wir werden nicht die zweite Wange hinhalten.“

Im Büro von ARIJ in Bethlehem zögert Khalilieh auf die Frage, ob er sich zum Schutz eine eigene arabische Bürgermiliz wünschen würde. „In Bethlehem hat niemand Waffen“, sagt er. „Wir sehen sehr gut, wie die israelische Armee in Orten wie Nablus, Dschenin oder Tulkarem gegen bewaffnete Gruppen vorgeht.“ Dort finden immer wieder Razzien statt, häufig sterben Palästinenser, Militante ebenso wie Unbeteiligte. „Das will hier niemand, die meisten wollen gleiche Rechte und dass ihre Kinder zur Schule gehen können“, sagt er. „Doch die Menschen werden nicht endlos zusehen, wie Freunde und Familienangehörige getötet werden.“ Er hofft auf Hilfe von außen. Eine Friedenstruppe, die glaubhaft für die Sicherheit der Palästinenser sorgen könnte, würden die Menschen hier annehmen, glaubt Khalilieh.

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