Die Demokratie bewegt sie

Eleonore Kujawa war einst die jüngste Schulleiterin in Berlin, später wurde sie als erste Frau Landesvorsitzende im Deutschen Gewerkschaftsbund. Auch mit 94 Jahren engagiert sie sich noch gegen rechts und geht auf die Straße

„Ich habe im Leben immer Glück gehabt“, sagt Eleonore Kujawa

Von Eva-Lena Lörzer
(Text) und Doro Zinn (Fotos)

Als sie geboren wurde, hatte in Deutschland die Zeit der Verrohung begonnen. Nach dem Krieg demokratisierte sich die Gesellschaft. Jetzt aber, fürchtet Eleonore Kujawa, ist es wieder so wie damals. Sie weiß, was das heißt.

Draußen: Auf der Straße unweit des Berliner Zoologischen Gartens herrscht turbulentes Treiben: Eine Gruppe Frauen in Businesskostümen bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge. Eine Mutter ermutigt ein Kleinkind, das bei ersten Laufversuchen gefallen ist: „Weiter geht’s!“

Drinnen: Eleonore Kujawa öffnet die Tür eines Zweizimmerappartements im Betreuten Wohnen. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers blickt sie auf die Straße, durch die Fensterfront im Wohnzimmer auf einen großen Garten. In die Seniorenresidenz ist sie vor zwei Jahren gezogen: „Ich habe gesagt, wenn meine Katze Katinka stirbt, gehe ich dahin. Die Katze ist zwanzig Jahre alt geworden.“ Eleonore Kujawa nimmt im Wohnzimmer auf einer Sitzbank an einem Holztisch Platz und schenkt etwas zu trinken ein. Auf dem Tisch liegt die Frankfurter Rundschau, auf einem roten Stehpult dahinter ein Kalender.

Notizen: Seit 1976, erzählt die Pädagogin, Gewerkschafterin und Bürgerrechtlerin, notiere sie stichpunktartig, was sie an dem jeweiligen Tag gemacht habe: „Neulich habe ich einen Kalender aus den siebziger Jahren gefunden und musste den Kopf schütteln, wie ich das alles geschafft haben soll.“

Ihren Mann stehen: Sie war damals Anfang 40, Schulleiterin, Mitglied des Bezirkselternausschusses und in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie in der Liga für Menschenrechte aktiv. Das alles als Alleinerziehende. Ihr Mann war 1969 gestorben. Da war ihre Tochter sieben. Leicht wurde es Kujawa auch sonst nicht gemacht: Im Referendariat etwa wurde ihr zugewandter Unterricht, bei dem die Schüler und Schülerinnen mitgestalten durften, kritisiert. Oder als sie zur Landesvorsitzenden der GEW gewählt wurde. Damals, erzählt sie, schimpften die Männer im DGB-Vorstand: „Eine Frau? Da können wir ja gar keine Witze mehr erzählen.“

Alles unter einen Hut kriegen: Sie habe das Taschengeld ihrer Tochter erhöht, dafür, dass diese abends ihre Anrufe entgegennehme: „Einen Anrufbeantworter hatten wir nicht.“ Einmal schrieb die Tochter ihr, dass sie nicht wolle, dass die Mutter abends immer weggeht: „Da habe ich ihr gesagt, dass mir das wichtig ist. Und es nicht mehr lange dauert, bis sie selbst ausgeht und ich zu Hause sitze und mir Sorgen mache.“

Politisierung: Durch das Aufwachsen im Krieg, vor allem aber durch ihre Mutter und eine ihrer Lehrerinnen wurde sie politisch geprägt: „Meine Mutter litt darunter, nicht arbeiten gehen zu können.“ Dem Vater, einem Sparkassenangestellten, sei es nach der Geburt ihrer älteren Schwester nicht geheuer gewesen, dass die Mutter nicht zu Hause war, wenn er von der Arbeit kam. Da habe er die Arbeit der Mutter kurzerhand gekündigt. Dazu waren die Ehemänner damals befugt. Fortan strich die Mutter in allen Büchern Stellen an, die sie frauenverachtend fand: „Sie hat immer erzählt, wie mulmig es ihr schon bei der Trauung geworden sei, als es hieß: ‚Er soll dein Herr sein.‘ “ Nach 1945 hatte Eleonore Kujawa eine junge Lehrerin, die sie für die noch neue Demokratie begeisterte: „Als das Grundgesetz verabschiedet wurde, habe ich es gelesen, jeden einzelnen Abschnitt.“

Frieden: Eleonore Kujawa wurde 1930 geboren. Als sie neun Jahre alt war, begannen die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg. Und während sie sich von der Mutter noch beruhigen ließ, die erzählte, der Erste Weltkrieg sei weit weg gewesen, war der Zweite schnell vor ihrer Haustür. Bomben, Hunger und Kälte wurden Alltag. Bei Kriegsende war sie 15 Jahre alt. Und wusste genau, was sie nie wieder erleben möchte, und niemandem wünscht: „Ich konnte auch nie verstehen, warum in der Schule noch Völkerball gespielt wird. Das ist schließlich nichts anderes als das Nachstellen von Krieg.“ Sie habe sich immer absichtlich abschießen lassen.

Pädagogik: Eigentlich wollte sie sich der Mathematik verschreiben. Stattdessen wurde sie begeisterte Lehrerin. Als Pädagogin setzte sie sich für Demokratisierung ein. Im eigenen Kollegium wie auch als Mitglied des nach der NS-Zeit gegründeten „Arbeitskreises Neue Erziehung“, der den NS-Erziehungsidealen demokratische Werte entgegensetzen wollte. Ebenfalls als Mitglied des Bezirks­elternausschusses im Berliner Wedding. Als solche war sie an den Änderungen des Schulverfassungsgesetzes mitbeteiligt. Etwa wurde eingeführt, dass Schulleitungen nicht länger vom Bezirksamt gestellt werden, sondern von einer Gesamtkonferenz gewählt werden müssen, und Elternversammlungen nicht von Leh­re­r*in­nen einberufen werden können: „Das war ganz entscheidend für die Demokratisierung der Schulen.“

Kujawa blickt vorne aus dem Fenster auf die Straße, hinten hinaus in einen großen Garten

Ausblick: Die derzeitige politische Lage sieht Eleonore Kujawa mit Sorge: „Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale.“ Einiges erinnere sie an die Weimarer Republik: „Dieses Aufsplittern in viele kleine Parteien, die miteinander streiten, statt gemeinsam gegen rechts zu gehen.“ Und dass der aufkommende Faschismus ignoriert werde. Dass von rechts erneut Gefahr ausgehe, sei seit den 1970ern klar. Damals sei bei Fußballspielen zum ersten Mal seit 1945 wieder offen rechte Gesinnung gezeigt worden. Sie erinnert auch an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda in den 90ern.

Nie wieder: 1995 organisierte die Liga für Menschenrechte eine Mahnwache zu 50 Jahren Kriegsende: „Die haben wir damals schon ‚Mahnwoche‘ genannt und nicht Friedenswoche.“ Sie steht auf und holt das Buch „Kriegskinder“ aus ihrer Kommode: „Damals haben wir unter anderem das Buch herausgebracht.“ Einer der Beiträge erzählt von ihren Erfahrungen.

Demokratie: Seit Jahren geht Eleonore Kujawa als Zeitzeugin in Schulen, um dafür zu sensibilisieren, dass Demokratie und Frieden nicht selbstverständlich sind: „Wir müssen uns für die Demokratie einsetzen.“ In Anbetracht der derzeitigen Entwicklungen ist sie wenig hoffnungsvoll. Dass zuletzt aber Massen gegen Rechtsradikalismus auf die Straßen gingen, sieht sie positiv: „Nur, es kommt sehr spät. Zu lange wollte niemand etwas von der Gefahr hören. Die Leute können sich nicht vorstellen, wie schnell unsere Demokratie ausgehöhlt werden kann.“

Eleonore Kujawa ist vor zwei Jahren in eine Seniorenresidenz gezogen

AfD-Verbot: Sie verfolgt die Diskussionen um ein Verbotsverfahren der AfD: „Die Gesinnung kann man nicht verbieten“, selbst wenn man die AfD verbietet. Sie fürchtet, die radikalen An­hän­ge­r*in­nen würden sich im Internet vernetzen: „Aber andererseits würde das Verbot nützen, weil sie dann nicht mehr im Bundestag säßen und ihnen der Geldhahn zugedreht würde. Sie würden allerdings sicher Spenden kriegen, noch und nöcher.

Überleben: Eleonore Kujawa hat nicht nur den Zweiten Weltkrieg und ihren Mann überlebt, sondern auch ihre Tochter. Schluckend erzählt sie, dass die Tochter an Krebs gestorben sei: „Ich habe sie anderthalb Jahre gepflegt.“ Im Wohnzimmer erinnern Fotos an sie. An der Wand hängt ein Kinderbild und eins, das die Tochter als junge Frau zeigt. Vor dem Fenster ein kleines Foto der Tochter kurz vor ihrem Lebensende, mit Katze im Bett: „Ihre Katze Clairvoyance war immer bei ihr. Nach ihrem Tod ist sie drei Jahre nicht aus dem Zimmer, als würde sie warten. Katzen sind so treu.“ Es sei eine schlimme Zeit gewesen, „aber das ist jetzt auch schon lange her.“

Ereignisreiches Jahrhundert: Sie habe, erklärt sie dennoch standhaft, im Leben immer Glück gehabt. Manchmal staune sie selbst darüber, was sie in ihrem fast ein Jahrhundert umfassenden Leben an Weltgeschehen mitbekommen hat: „So viele verschiedene Schwerpunkte. Und immer interessant.“ In ihrer Todesanzeige soll einmal stehen: „Sie ist ganz plötzlich gegangen.“ Solange sie aber noch lebt, geht sie, geht weiter ins Theater und auf Demos: „Nur nicht während der Mittagsschlafzeit.“