Vorzeigeathletinnen im Schwimmen: Schwim­mende Sensa­tionen

Die Roaring Twenties waren Boomjahre für den Schwimmsport, besonders bei den Frauen. Zeitweise waren sie schneller als die schnellsten Männer.

Sibyl Bauer

Olympiasiegerin 1924: Sibyl Bauer Foto: Bettmann Archive/Getty Images

Eine Zeitungsnachricht aus dem Jahr 1922. „Woman Breaks Man’s Record for First Time in Swim History“, war am 9. Oktober 1922 in der New York Times zu lesen: Erstmals in der Schwimmgeschichte bricht eine Frau den Männerweltrekord. Die damals 19-jährige Sybil Bauer war in 6:24,4 Minuten über 440 Yards Rücken etwa vier Sekunden schneller geschwommen als der damalige Weltrekord der Männer. Den hatte ihr Teamkollege Harold „Stubby“ Krueger in 6:28 Minuten gehalten. Später verbesserte sie den Rekord erneut.

Noch etwas war an der Meldung interessant. Sybil Bauers Rekord wurde erst im hinteren Teil des Artikels erwähnt. Im Vordergrund stand ein Weltrekord, den Gertrude Ederle über 150 Meter Freistil geschwommen war.

Bauer und Ederle waren beide Amerikanerinnen, Bauer stammte aus Chicago, Ederle aus New York. Beide waren Kinder von Einwanderern, Bauer hatte Wurzeln in Norwegen, Ederle in Deutschland. Und beide gehörten in den 1920er Jahren zu den besten Schwimmerinnen der Welt, waren Olympiasiegerinnen von Paris 1924, und: Beide waren besser als die besten männlichen Schwimmer. Ederle durchschwamm im August 1926 als erste Frau den Ärmelkanal – in 14:32 Stunden zwei Stunden besser als der bis dato beste Mann.

Ederle hatte die Ärmelkanaldurchquerung unmittelbar nach den Spielen von Paris angepeilt, wo sie sich ihrer Meinung nach unter Wert verkauft hatte. Die amerikanischen Frauen hatten gegenüber ihren Konkurrentinnen einen massiven Wettbewerbsnachteil. Um die jungen Damen nicht der „verruchten Moral der Stadt Paris“ auszusetzen, hatte der US-Schwimmverband sie weit außerhalb der Stadt untergebracht. Die Folge waren lange und beschwerliche Anreisezeiten zu den Wettkämpfen.

Obwohl noch keiner Frau die Überquerung gelungen war, war der Kanal ein logischer Schritt. Die Roaring Twenties waren eine Epoche der Spektakel gewesen. Im Madison Square Garden zogen die Sechstagerennen die Massen an, bei Marathon-Tanzwettbewerben praktizierten Paare für ein paar Dollar bis zum Umfallen den Lindy Hop. Und wenn Gertrude Ederle im damals vornehmen Seebad Brighton Beach am Ufer auf und ab schwamm, kamen Tausende, um ihr zuzuschauen.

Gewagt

Das Interesse erlaubte es ihr, nach den Spielen von Paris Berufsschwimmerin zu werden. Einer ihrer ersten Triumphe war die 35 Kilometer lange Durchquerung der New Yorker Bucht, vom Südzipfel von Manhattan aus hinüber zur Küste von New Jersey. Dabei schockierte sie nicht zuletzt dadurch, dass sie für die damaligen Zeiten äußerst gewagte Badekleidung anlegte. Für die züchtigen weiten Baumwollanzüge der Epoche hatte sie als Sportschwimmerin keine Verwendung.

Noch im selben Jahr versuchte sie sich erstmals am Kanal. Doch ihre Mannschaft im Begleitboot zog sie nach knapp neun Stunden erschöpft aus dem Wasser. Später protestierte Ederle, dass sie sich bloß ein wenig ausgeruht hatte und gerne weiter geschwommen wäre.

Am 6. August 1926 war es so weit. Ederle watete bei Cap Gris Nez in Frankreich bei starkem Wellengang mit den Worten „Gott, hilf mir“ in die Fluten. Vierzehneinhalb Stunden später begrüßte sie an einem felsigen Strand in der Nähe von Kingsdown ein britischer Beamter, der in stoisch englischer Manier nach ihrem Pass fragte.

Der Empfang zu Hause in New York war da schon herzlicher. Ihre Heimatstadt bereitete Gertrude Ederle im „Canyon of Heros“ im unteren Manhattan eine Konfetti-Parade, eine Ehre, die sonst nur Kriegshelden oder Baseball-Champions zuteil wurde. Zwei Millionen Menschen kamen, ein unvorstellbares Erlebnis für eine Metzgerstochter aus Harlem.

New Women

Ihre Leistung fiel wie die von Bauer in eine Zeit der Emanzipation. Die „new women“ der 1920er Jahre drängten in viele gesellschaftliche Bereiche, die ihnen vorher verwehrt geblieben waren. Im neuen Look mit kurzen Haaren und Hosenzügen sah man Frauen als Künstlerinnen, Journalistinnen und Unternehmerinnen. Und Gertrude Ederle stand als Identifikationsfigur an vorderster Front dieser Bewegung.

In den folgenden Monaten tat Ederle ihr Bestes, aus ihrer Großtat Kapital zu schlagen. Sie tourte als Teil einer Variete Show durchs Land und ließ sich als schwimmende Sensation feiern. In Hollywood drehte sie einen Film über ihr Leben, der mit damals sagenhaften 8.000 Dollar entlohnt wurde. Doch das Showgeschäft gefiel ihr nicht. Es erschöpfte sie mehr, als durchs offene Meer zu pflügen, und führte zum Zusammenbruch.

In den 1930er Jahren, die einen konservativen Backlash gegen die selbstbewussten Frauen der Twenties mit sich brachten, wurde es ruhiger um Gertrude Ederle. Und das in mehrfacher Hinsicht. Ederle verlor zunehmend ihr Gehör. 1933 wurde sie Opfer eines Haushaltsunfalls, in dessen Folge jahrelang ihr kompletter Oberkörper eingegipst war. Ihre einst unbändige körperliche Energie war dauerhaft gebrochen.

Trotzdem wurde sie sehr alt. In ihren späten Jahren lebte sie mit zwei Mitbewohnerinnen in einem Außenbezirk von New York und brachte an einer Gehörlosenschule Kindern das Schwimmen bei. Auf Nachfrage von Reportern sagte sie vor ihrem Tod im Jahr 2003, sie sei zufrieden, es fehle ihr an nichts. Sie sei keine, die nach den Sternen greifen müsse, wenn sie den Mond habe. Dieser Tage wird ihr verspäteter Ruhm zuteil. Im Mai kommt eine Verfilmung ihres Lebens in die Kinos, mit der britischen Schauspielerin Daisy Ridley in der Hauptrolle.

Die Favoritin

Sybil Bauer reiste nach ihren Weltrekorden – zwischenzeitlich hielt sie über jede Strecke im Rückenschwimmen den Frauenweltrekord – als Favoritin zu den Spielen nach Paris. Es waren erst die dritten Olympischen Spiele, bei denen Schwimmerinnen dabei sein durften. Sybil Bauer war eine junge, weiße College-Studentin aus der Mittelschicht. Im Sinne der damals für Frauen erlaubten Zugänge war Schwimmen eine Sportart, die zu ihr passte – auch wenn sie ebenfalls gut im Basketball, Feldhockey und in dem als Männersport geltenden Baseball war. Ab 1921 stellte sie „fast wöchentlich Weltrekorde im Rückenschwimmen“ auf, wie der Sporthistoriker Robert Pruter berichtet. Zunächst war ihre Prominenz auf Chicago und die Westküste beschränkt, ab 1922 eroberte sie New York. Im Juli 1922 stellte sie dort an vier Tagen zehn Weltrekorde auf.

Schwimmen boomte damals in Amerika. Johnny Weissmuller, Bauers Trainingskollege im Illinois Athletic Club, kraulte 1922 als erster Mensch 100 Meter unter einer Minute, und der Hawaiianer Duke Kahanamoku fiel nicht nur mit schnellem Kraulen – in Paris gewann er Silber hinter Weissmuller -, sondern auch als „Father of Surfing“ auf: In Europa und Australien führte er in speziellen Shows die Kunst des Wellenreitens vor.

Weil Bauer derart dominierte, wurde diskutiert, ob sie nicht besser in den Männerwettbewerben antreten solle. „Girl May Race Men Olympians“ titelte die New York Times. Bauers Paradestrecke – 400 Meter bzw. 440 Yards Rücken – wurde bei Olympia nicht angeboten. Die Gründe sind historisch nicht eindeutig geklärt, aber ein Start in der Männerkonkurrenz wurde schnell abgelehnt worden. Jedenfalls trat Bauer nur über 100 Meter Rücken der Frauen an, schwamm dort schon im Halbfinale Weltrekord und im Finale in 1:23,2 Minuten erneut – 4 Sekunden vor der Zweitplatzierten.

Sie wurde nur 23

Sybil Bauer hatte das Zeug zum internationalen Star. Da zeigte sich nicht zuletzt daran, dass sie im „Norwegian Club“ von Chicago gerne Theater spielte und sie sich mit Ed Sullivan verlobte – der mit der nach ihm benannten Late-Night-Show berühmt werden sollte. Tatsächlich schwamm sie nach Olympia noch zwei Jahre lang erfolgreich – mit Weltrekorden. Doch im März 1926 zog sie sich krankheitsbedingt zurück. Darmkrebs wurde diagnostiziert, am 31. Januar 1927 starb Sybil Bauer im Alter von nur 23 Jahren. Zu ihren Sargträgern gehörte Johnny Weissmuller.

Vor hundert Jahren ging mit Sybil Bauer und Gertrude Ederle der Stern der Schwimmerinnen, die besser als die besten Männer waren, auf. Sie blieben nicht allein. Ohne Anspruch auf Vollzähligkeit sei an Lynne Cox (1972) und Penny Lee Dean (1978) erinnert, die allgemein gültige Weltrekorde aufstellten. Oder an Sarah Thomas, der 2019 die bislang einzige Vierfachdurchquerung des Ärmelkanals gelang: 132 Kilometer in 54 Stunden und 10 Minuten. Die Dänin Greta Andersen, 1948 Olympiasiegerin über 100 Meter Kraul, durchquerte häufig den Ärmelkanal, und beim renommierten „Billy Butlin Cross Channel International Swim“ war sie 1958 in 11 Stunden und 59 Minuten fast vier Stunden besser als alle gegen sie antretenden Männer. Nur wenige Namen von ganz vielen.

Nicht zuletzt dank Gertrude Ederle ist das Marathonschwimmen eine Sportart, die viele Frauen anzieht. Die International Swimming Hall of Fame hat einmal durchgezählt: Zu Beginn der 2020er Jahre ­wurden 14 der 23 Schwimmausdauerrekorde von Frauen gehalten.

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