das wird
: Ein Riese auf dünnen Beinen

Heute würde der Bremer Bürgerrechtler Ewald Hanstein 100 Jahre alt

Von Ralf Lorenzen

„Von uns Sinti denkt man, wir ziehen in der Welt herum, leben in Wohnwagen und sind immer auf Reisen“, beginnt Ewald Hanstein seine Autobiografie: „Dabei habe ich mein ganzes Leben lang in festen Wohnungen verbracht, es sei denn, ich wurde gerade mal wieder in ein Lager gesteckt. Geboren bin ich aber tatsächlich auf einer Reise.“ Das war am 8. April 1924, als seine Familie wie noch in jedem Sommer mit Pferd und Wagen durch Schlesien zog und in der Garnisonsstadt Oels Station machte.

Die Familie gab ihm den Sinti-Namen „Berglein“. Nichts trifft diesen menschlichen Riesen auf dünnen Beinen besser: Er war streitbar und unbequem, versöhnlich und herzlich. Hungrig nach Leben und unendlich humorvoll bis zu seinem Tod 2009. Seine Arbeit wirkt bis heute nach in Bremen und Bremerhaven.

Hanstein überlebte die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er verlor auf diesem Weg fast seine gesamte Familie, kämpfte jahrzehntelang für eine kleine Entschädigung. In seinem Arbeitsleben war er Musiker, Grenzpolizist (in der jungen DDR), Schlosser (unter anderem bei Borgward), Textil- und Gebrauchtwarenhändler, Gastwirt, Ladenbesitzer, Scherenschleifer, Tanz- und Musiklehrer. Ab den 1980er-Jahren wurde er zu einem der Vorreiter der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma.

Als Vorsitzender des Bremer Sinti-Vereins war er Anfang der 1980er einer der ersten Ansprechpartner für Roma, die als Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien kamen. Bei einem Konzert zur musikalischen Einweihung der – von ihm mitinitiierten – Gedenktafel an den Völkermord an den Sinti und Roma am alten Bremer Schlachthof war der letzte Sinti-Swing gerade verklungen, als einige junge Roma darum baten, ebenfalls spielen zu dürfen. Die Bühnentechnik wollte schon abbauen, da war der damals über 70-jährige Hanstein nach Bremen-Nord unterwegs, ein benötigtes Keyboard holen. Kurz vor Mitternacht war er zurück – und kein*e Zu­schaue­r*in nach Hause gegangen.

Einen Monat lang stellt von heute an das „Digitale Heimatmuseum“ im Geschichtskontor Bremen-Walle den Film „Ewald Hanstein in Mittelbau-Dora – 50 Jahre nach der Befreiung“ zur Verfügung“: https://digitales-heimatmuseum.de/meine-hundert-lebenEwald Hansteins Autobiografie „Meine hundert Leben“ (Co-Autor: Ralf Lorenzen) ist 2005 im Donat-Verlag erschienen (168 S., 16,80 Euro)

Wer 2008, wenige Monate vor seinem Tod, erlebt hat, wie Hanstein seiner angeschlagenen Gesundheit ein letztes Mal einen öffentlichen Lebensbericht abrang, hat gelernt, dass die Erinnerung der Überlebenden mit der Zeit gar nicht verblasst, sondern umso schmerzlicher wird.

Heute werden auf seinem Grab in Bremen-Aumund, nahe der Ewald-Hanstein-Straße, besonders viele Blumen liegen.