Mit Audioguide gegen Anthropozän

Lässt sich das Anthropozän ausstellen? Das fragt sich das Naturkundemuseum im neuen literarischen Audioguide „Wie Gras“. Die Antwort flüstert uns Sandra Hüller ins Ohr

von Jonathan Guggenberger

„Wie Gras“, der neue literarische Audioguide des Naturkundemuseums, will einen Blickwechsel auf die eigene Sammlung. Genauer: Man will „das Unausgestellte ausstellen“. Das sagt die Autorin Judith Schalansky und meint damit das menschliche Gerüst hinter den naturgeschichtlichen Exponaten. Zusammen mit der Schriftstellerin Monika Rinck und dem Philosophen Daniel Falb hat sie den „literarischen Audioguide zum Anthropozän“ geschrieben. Tondesign und Musik des einstündigen Audiorundgangs stammen vom Performance-Kollektiv FARN. Für die Vertonung hat man sich prominente Stimmen geliehen, allen voran die von Sandra Hüller. Doch auch Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow und Christoph Müller vom Schauspiel Leipzig versprechen, ein neues Publikum ins alte Gemäuer zu locken.

Zur Premiere hatte sich daher auch Sandra Hüller angekündigt. Gekommen ist sie nicht. Ihre Ressourcen scheinen nach der Tour de Force durch Hollywood erschöpft zu sein. Um die Erschöpfung von Ressourcen geht es auch bei einer der ersten Stationen des Rundgangs: der geologischen Sammlung – oder wie sie hier genannt wird: „Die Schatzkammer des Extraktivismus“. Denn die literarische Begleitung, die den eigenen Blick oft auf scheinbar Nebensächliches wie Feuerlöscher oder Heizungsrohre lenkt, will mehr als das Museum zur atmosphärischen Erzählung machen. Sie will aufklären. Und das über die Produktionsbedingungen und Herrschaftsverhältnisse der Sammlung und ihrer Objekte. Ganz allgemein: über das Naturzeitalter des Menschen – das Anthropozän. Ein Epochenbegriff, den die Internationale Geowissenschaftliche Union erst kürzlich ablehnte. Für die Ma­che­r:in­nen von „Wie Gras“ ändert das nichts: Das Anthropozän ist da, es umgibt uns alle. In der naturkundlichen Sammlung soll es aus seinem Versteck gelockt werden.

Während man durchs Museum schlendert, kreisen die Stimmen von Hüller, Lowtzow und Müller geisterhaft um einen herum. Immer wieder verweben sie sich mit der eigenen Wahrnehmung. Es entsteht eine geheimnisvolle Immersion, die dem psychologischen Effekt von Podcasts gleicht: Die Stimmen versinken im Nebenbei, Körper und Blick entspannen sich. Herausgerissen aus dieser Trance wird man von Diskursphrasen wie „alter weißer Mann“, von markigen Rufen wie „Das sind Zombies!“ oder von mysteriösen Buzzwords wie „Psychopomp“. Der Psychopomp kommt oft: In der griechischen Mythologie führt er die Seelen ins Jenseits, im Naturkundemuseum soll er uns in die immaterielle Welt der Kulturgeschichte und ihrer bösen Geister führen. So begegnen wir vor der „Biodiversitätswand“ dem Aussterben der Arten und erfahren von der Kehrseite des menschlichen Sammelns: „Museum sticht Leben“ – man sieht hier nur Totes, keine Lebewesen. Die legendäre „Nasssammlung“, in der sich gelblich schimmernd Regale voll tierischer Anatomie türmen, verwandelt sich in eine zwielichtige Bar. Auf jeden Cocktail folgt der morbide Trinkspruch: „Um der Schönheit der Fäulnis willen“. Auch das Konservieren steht in Beziehung zum Tod.

Heiter wird es schließlich im Universum. Die Erde und ihre menschengemachten Probleme scheinen für einen Moment ganz klein. Was hier räumlich in Perspektive gerückt wird, versucht der Audiowalk zuletzt auch zeitlich: „Wie Gras“, so titelt das Lied am Ende des Rundgangs, sei auch der Mensch im Angesicht des gigantischen Zeitstrahls, der ihn umgibt. Die Botschaft: Auch das Anthropozän wird eines Tages im Museum landen. Dafür schafft „Wie Gras“ literarische Zugänge abseits tagespolitischer Parolen. Denn um das zerstörerische Anthropozän zu überwinden, muss es erkannt werden – auch in einemselbst.