Ökonom Bofinger über die Schuldenbremse: „Es wurde viel falsch gemacht“

Deutschland sei wieder der kranke Mann Europas, sagt der Ökonom Peter Bofinger. Auch das auf den Automobilsektor ausgerichtete Geschäftsmodell trage nicht mehr.

Ein Kran steht vor dem Bauskelett eines großen Wohnhauses in der Dämmerung

Wirtschaftspolitik soll bezahlbaren Wohnraum liefern, findet Peter Bofinger – wie hier in Leipzig Foto: Sebastian Willnow/dpa

taz: Herr Bofinger, hat es Sie überrascht, als die Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, also die „Wirtschaftsweisen“, vor Kurzem eine Reform der Schuldenbremse vorschlugen?

war 15 Jahre lang einer der sogenannten Wirtschaftsweisen. Der Ökonom forscht an der Uni Würzburg.

Peter Bofinger: Der Sachverständigenrat schlägt lediglich vor, die Schuldenbremse etwas flexibler zu gestalten. Das ist noch keine grundlegende Abkehr von ihren Prinzipien. Trotzdem war ich äußerst positiv überrascht von dieser Forderung.

Warum?

Veronika Grimm hatte sich noch kurz zuvor mit Christian Lindners Berater Lars Feld sehr dezidiert für die Schuldenbremse ausgesprochen. Dass nun offenbar auch seitens konservativer Ökonomen das Tabu Schuldenbremse gebrochen und Reformvorschläge gemacht werden, ist ein sehr wichtiges Signal. Die Schuldenbremse ist eine Zwangsjacke, mit der man in der gegenwärtigen Situation keine gestaltende Wirtschaftspolitik machen kann.

Wie müsste eine Reform der Schuldenbremse aussehen?

Ein Vorschlag ist, dem Staat schuldenfinanzierte Nettoinvestitionen zu ermöglichen. Dann könnte er für Investitionen, die über den Erhalt der Infrastruktur hinausgehen, neue Kredite aufnehmen.

Gibt es andere Möglichkeiten?

Man könnte beschließen, dass der Schuldenstand nicht in absoluten Euro-Beträgen gleich bleiben sollte, sondern im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in laufenden Preisen. Wenn die Wirtschaftsleistung steigt, wächst damit dann der Rahmen, in dem sich der Staat verschulden kann. Damit hätte die Regierung deutlich mehr Spielraum. Bei einem Schuldenstand von 65 Prozent würde dies eine Neuverschuldungsrate von 1,5 Prozent statt 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ermöglichen. Das würde bedeuten, dass der Bund derzeit statt etwa 15 Milliarden Euro 60 Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen könnte.

Wäre diese Schuldenregel optimal?

Besser wäre es, wenn es gar keine quantitative Begrenzung der Neuverschuldung gäbe, dafür aber die Verpflichtung, dass der Kreditspielraum nur für Zukunftsinvestitionen verwendet werden darf. Um das zu überprüfen, sollte die Regierung verpflichtet sein, die mit Schulden finanzierten Ausgaben von vornherein zu spezifizieren. Dies würde einen öffentlichen Diskurs über die Sinnhaftigkeit der Ausgabe ermöglichen.

Für eine Reform der Schuldenbremse braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. CDU-Chef Merz fordert jedoch einen schlanken Staat und Kürzungen im sozialen Bereich. Ist eine Einigung mit der Union überhaupt realistisch?

Führende Forschungsinstitute haben ihre Prognose für die deutsche Wirtschaft stark nach unten korrigiert. Sie erwarten für das laufende Jahr nur noch ein minimales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,1 Prozent. Das geht aus dem Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute RWI Essen, Ifo-Institut München, IfW Kiel, IWH Halle und DIW Berlin für die Bundesregierung hervor. Im Herbst waren sie noch von einem Wachstum von 1,3 Prozent für 2024 ausgegangen.

„Die deutsche Wirtschaft ist angeschlagen“, sagte Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft am Mittwoch in Berlin. Die Exporte haben sich schwächer entwickelt als erwartet. Auch habe ein stark erhöhter Krankenstand die Wirtschaft belastet. „Zwar dürfte ab Frühjahr eine Erholung einsetzen, die Dynamik dürfte aber insgesamt nicht allzu hoch ausfallen“, sagte er. Für die Lage machen die Ökonomen auch die Bundesregierung verantwortlich. Ihr unklarer Kurs verunsichere Investoren. „Das Problem der Bundesregierung ist vermutlich, dass sie in sich keinen Konsens über die Ausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik hat“, sagte Kooths in Anspielung auf den häufigen Streit in der Ampel. (akr)

Mit seinen Forderungen wird Merz nicht weit kommen. Beim Sozialstaat ist nicht mehr viel zu holen. Er kann vielleicht versuchen, ein bisschen Geld beim Bürgergeld herauszuquetschen. Aber an die Rente wird er nicht gehen. Das sind doch seine Wähler*innen. Merz hat also gar keinen echten Handlungsspielraum.

Wie hoch ist überhaupt der Investitionsbedarf in der öffentlichen Infrastruktur?

Vor allem die Kommunen haben einen großen Rückstau bei den Investitionen. Auch bei der Bahn ist der Investitionsbedarf enorm. Berücksichtigt man dies, bräuchte der Staat in den nächsten zehn Jahren grob geschätzt einen zusätzlichen finanziellen Spielraum von jährlich 50 Milliarden Euro.

Ließe sich diese Summe auch durch eine Besteuerung von Vermögen oder höhere Steuern für Besserverdienende auftreiben?

Die Vermögenssteuer halte ich für keine gute Lösung, da sie dazu führen kann, dass Einkommen mit deutlich mehr als 50 Prozent besteuert werden. Spielraum sehe ich bei der Erbschaftssteuer auf große Vermögen. Auch beim Spitzensteuersatz für sehr hohe Einkommen besteht noch Luft nach oben. Aber es wird nicht möglich sein, auf diesem Wege rechtzeitig die Mittel aufzubringen, die man in den kommenden Jahren für mehr öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und für die staatliche Förderung erneuerbarer Energien und innovativer Technologien benötigt.

Derzeit sind Steuersenkungen für Unternehmen im Gespräch. Begründet wird das mit der angeblich schlechten Wettbewerbsfähigkeit. Ist die Lage tatsächlich so schlecht?

Die deutsche Wirtschaft ist derzeit in einer gefährlichen Situation. Im Automobilbereich haben insbesondere die Zulieferer gravierende Probleme, aber auch für Volkswagen wird die Situation immer schwieriger. Gleichzeitig fährt die energieintensive Industrie ihre Produktion zurück. Insofern reden derzeit zwar alle über den Fachkräftemangel, doch kann sich die Situation auch auf dem Arbeitsmarkt schnell ändern.

Ist Deutschland also wieder der kranke Mann Europas?

Ja. Krank bedeutet nämlich, dass das bisherige, auf den Export, die Industrie und insbesondere den Automobilsektor ausgerichtete Geschäftsmodell einfach nicht mehr trägt.

Sind niedrigere Unternehmenssteuern, wie sie auch Wirtschaftsminister Robert Habeck ins Spiel gebracht hat, die richtige Maßnahme?

Statt die Steuern mit der Gießkanne zu senken, muss jetzt überlegt werden, wo man in zehn Jahren stehen will, in welchen Bereichen und Technologien die deutsche Wirtschaft künftig punkten kann. Diese sollten gezielt gefördert werden. Da wurde in der Vergangenheit viel falsch gemacht.

Inwiefern?

Die Politik hat lange nicht erkannt, dass wir eine Umstellung auf Elektromobilität brauchen. Bei der Batteriezellproduktion, die das Herzstück der Elektromobilität ist, sind die deutschen Autobauer jetzt nahezu blank.

Ist es dann überhaupt noch sinnvoll, die Automobilindustrie zu fördern?

Das ist sicherlich noch sinnvoll. Es ist aber eine konsistente Strategie notwendig, wie die Branche künftig aufgestellt sein soll.

Braucht es dafür auch einen Staat, der aktiv Industriepolitik betreibt?

Natürlich. Es ist ein Staat notwendig, der strategisch denkt und überlegt, wie man das Land voranbringt. China und die USA mit ihrem Inflation Reduction Act machen das genau so.

Glauben Sie, dass die verfehlte Wirtschaftspolitik auch schuld am Aufstieg der AfD ist?

Die Gründe für den Aufstieg der AfD würde ich eher jenseits der Wirtschaftspolitik verorten. Aber der Staat sollte auf die Unzufriedenheit im Land eingehen und zeigen, dass er für die Menschen da ist.

Was würden Sie machen?

Wir haben derzeit eine massive Krise im Bausektor. Gleichzeitig steigen vielerorts die Mieten und bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper. Was es also braucht, ist ein groß angelegtes Wohnungsbauprogramm. Denn bezahlbarer Wohnraum ist für viele Menschen ein dringendes Problem – dies sollte die Politik endlich angehen.

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