Ich bin der Waldbrand

Der Soziologe Nikolaj Schultz nähert sich der drohenden ökologischen Katastrophe mit seinem Buch „Landkrank“ in essayistischer Form

Bei der Hitzewelle in Paris kann der Autor Nikolaj Schultz nicht schlafen Foto: Pascal Rossignol/reuters

Von Otto Langels

Paris leidet unter einer fürchterlichen Hitzewelle. Sie raubt dem Ich-Erzähler den Schlaf, beschleunigt seinen Herzschlag, verursacht körperliches Unwohlsein. Das Thermometer steigt auf rekordverdächtige 45 Grad. Doch die heißen Tage sind kein seltenes Phänomen mehr. „Paris erlebt wieder einmal eine Hitzewelle, eine von denen, die früher ungewöhnlich waren, aber inzwischen normal oder zumindest vertraut erscheinen.“

Der junge dänische, in Paris lebende Soziologe Nikolaj Schultz, bekannt geworden durch das mit Bruno Latour verfasste Memorandum zur Entstehung einer ökologischen Klasse, nimmt das Leiden unter der unerträglichen Hitze zum Anlass einer Selbstbefragung. Statt die vielfältigen wissenschaftlichen Darstellungen zur „planetarischen Notlage“ durch eine weitere zu ergänzen, sucht Schultz nach neuen Ausdrucksformen. Mit seinem Essay, angesiedelt zwischen eigenem Erleben, subjektiven, literarisch gefärbten Eindrücken und theoretischen Gedanken, möchte er ein Bewusstsein schaffen für die drohende ökologische Katastrophe.

Schultz illustriert die Veränderungen an zahlreichen Beispielen: Der Ventilator, ohne den er nicht schlafen kann, treibt den Energieverbrauch massiv in die Höhe und sorgt für noch mehr CO2 in der Atmosphäre. Die Lebensmittel aus dem Supermarkt sind in Plastik verpackt, das am Ende irgendwo im Meer landet. Der Verzehr von Avocados und Quinoa statt Fleisch sorgt in den Anbaugebieten für die Verschlechterung der Böden und für Wasserknappheit. „Mein Tun hat Auswirkungen an Orten, an denen ich niemals gewesen bin und die zu besuchen mir wahrscheinlich auch nie in den Sinn gekommen wäre.“

Dies alles beschreibt Schultz anschaulich, er verbindet persönliche Eindrücke mit grundlegenden Einsichten zur Umwelt- und Klimakrise. Doch nicht immer findet er prägnante, überzeugende Worte: „Ich sitze schwer atmend in meinem Schlafzimmer und stecke zugleich mit meinen Stiefeln tief in den Lebensgrundlagen anderer Menschen.“ Er beklagt das Fehlen von Landkarten, die ein realistisches Abbild des Geländes bieten – mit dem Verlust an Artenvielfalt und Bewohnbarkeit –, um dann fortzufahren: „Vielleicht bin ich Erde, Wind, Feuer und Wasser, aber auch Verschlechterung der Böden, Wirbelstürme, Waldbrände und Meeresverschmutzung.“ Oder: „Ich möchte die Spuren loswerden, die mein Leben hinter sich zurücklässt. Ja, ich möchte gern eine Insel sein.“

Nikolaj Schultz: „Landkrank. Ein Essay.“ Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhr­kamp Verlag, Berlin 2024, 125 Sei­ten, 15 Euro

Die Insel als Metapher ist der vergebliche Versuch, der im doppelten Wortsinn bedrückenden Pariser Realität zu entkommen. Als realer Zufluchtsort erscheint Schultz die kleine Mittelmeerinsel Porquerolles in der Nähe von Toulon, wo er sich Kühlung und das Eintauchen in eine halbwegs intakte Natur erhofft. Allerdings hat das Mittelmeer in einem halben Jahrhundert die Hälfte seiner Säugetiere und ein Drittel seiner Fischarten verloren. Und der Insel, die in den Sommermonaten täglich 15.000 Urlauber heimsuchen, geht mit dem Massentourismus das Trinkwasser aus, während unzählige Schiffe und Jachten die Küste verschmutzen. Das einst idyllische Leben ist ausgelöscht oder anderswohin geflohen.

Nikolaj Schultz zeichnet ein deprimierendes Bild. Aus all dem folgt: „Die Probleme scheinen niemals zu verschwinden, weil das Produktionssystem sich in ein Verwüstungssystem verwandelt hat.“ Schultz plädiert, wie wir es bereits aus der gemeinsamen Arbeit mit Bruno Latour kennen, für eine Politik, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellt. Erkämpfte einst die Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt, müsse heute eine ökologische Klasse – jenseits aller sozialen und ideologischen Gegensätze – den Klimawandel aufhalten. Konkreter wird Nikolaj Schultz jedoch nicht.

Eine ökologische Klas­se – jenseits aller sozia­len und ideo­logischen Gegensätze – soll den Klimawandel aufhalten

Am Ende erscheint bei ihm das Segeln als Metapher, wie wir unter Anspannung aller Kräfte gemeinsam überleben können: Wir müssen uns der verfügbaren Instrumente bedienen, auf Wissen, Kommunikation und Koordination setzen, gepaart mit Neugier, Aufmerksamkeit und Fantasie.

Ob aber unsere Rettung auf dem Meer liegt? Denn „Landkrank“, so der Titel von Schultz’Essay, wird jemand, wenn er nach einer Seefahrt wieder festen Boden betritt und ihm schwindlig wird. Aber vermutlich müssen wir noch weitere Gewiss- und Gewohnheiten über Bord werfen, um einen Ausweg aus der planetarischen Notlage zu finden.