Vom Krieg in die Innenstädte

Auftakt gelungen: Das Berliner Ringtheater zeichnet am neuen Standort die Entwicklung und den Einsatz von Tränengas nach

Von Tom Mustroph

Berlin hat wieder eine Zukunft. „Neue Zukunft“ heißt das Areal. Es liegt direkt an der Mauer der Ringbahn zwischen Ostkreuz und Treptower Park. Und der Anblick lässt all die Herzen derer, die die 1990er Jahre für die allerschönsten im eigenen Leben und auch für eine prächtige Dekade der Stadt gehalten haben, bis an den Hals pochen. Hier ist (Ost-)Berlin noch mal so, wie es war: Alte Industrieanlagen, bunt überzogen mit Graffiti, weite Flächen, versehen mit ein paar eilig zusammengeklaubt wirkenden Sitzgelegenheiten und Menschen darauf, die hier ewig zu sitzen scheinen, für die Zeit noch nicht Geld geworden ist, die den Sonnenschein genießen und bei Regen einfach nur unter eines der Dächer huschen würden. Ein Kino gibt es hier, das ehemalige Kino Zukunft, das aktuell mit dem „Union“-Film wirbt. Der legendäre Klub „Wilde Renate“ hat Zuflucht gefunden. Eine Kneipe gibt es natürlich auch. Und auch das Berliner Ringtheater, wie all die anderen Institutionen weggentrifiziert vom ursprünglichen Standort, hat auf dem Areal ein neues Zuhause gefunden.

Die erste Spielzeit am neuen Ort – der auch nur temporär ist, der Stadtautobahn soll nach dem Willen des jetzigen Senats in fünf Jahren alles weichen, was hier gerade wächst, blüht und gedeiht – wird mit einem klassischen Berliner Thema eröffnet: Einer Produktion über Tränengas. „Teargas – A Safe Weapon“ zeichnet den Weg des Gases von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs über die Innenstädte der Kolonien wie in Indien bis in die Städte fast jeden Landes dieser Erde nach.

Dazu hat die an der Universität Hildesheim gegründete Gruppe „what about: fuego“ in einem der alten Reichsbahnreparaturschuppen eine Art Labor eingerichtet. Zwischen Eisensäulen, denen man ihr langes Alter und auch den Kontakt mit allerlei Substanzen ansieht, befindet sich ein kreisrundes Pult. Darauf sind Computer und Monitore installiert. Rings um das Pult beziehen vier Per­for­me­r*in­nen Position und dozieren zunächst über Sicherheitsaspekte im eigenen Leben und auch in dem Gebäude, in dem die Performance stattfindet.

Das ist ein sanfter Einstieg ins Thema. Tränengas wird von Sicherheitskräften gern als ein sicheres Mittel beworben, das öffentliche Sicherheit ohne großartige Verletzungen herzustellen vermag. Dass dem nicht ganz so ist, wissen Menschen mit Demonstrationserfahrungen in hinreichendem Maße. An welchen Orten der Welt, Tränengas übermäßig eingesetzt wird, darüber informiert die Nichtregierungsorganisation Amnesty International online auf einer interaktiven Karte. Aufgelistet ist dort etwa das Tränengas, das auf einen Trauerzug in Bolivien gefeuert wurde, jenes, das bei Studentenprotesten in Chile oder gegen Demonstrierende für freie Wahlen in der vom Krieg verheerten Demokratischen Republik Kongo eingesetzt wurde, weitere Einträge gibt es in Paris und Hongkong.

Der dramaturgische Kniff von „what about: fuego“ besteht darin, diese für die Niederschlagung innerer Proteste eingesetzte Waffen auf ihren Ursprungseinsatz im Krieg zurückzuführen. Danach waren französische Militärs die ersten, die Reizgas 1914 einsetzten, um deutsche Truppen aus den Schützengräben zu treiben. „Mobilität in den Stellungskrieg“ zu bekommen, lautete damals das Motto. Die kaiserlichen Truppen revanchierten sich bald, setzten bekanntermaßen neben Reizgas auch Giftgas ein. Reizgas sollte zudem den Gebrauch der Gasmaske erschweren, damit das Giftgas dann besser wirken kann. Chemische Waffen wurden nach dem 1. Weltkrieg durch die Genfer Konvention geächtet. Tränengas als sogenannte Defensivwaffe aber nicht.

Die Performer’innen zeichnen diese historischen Diskurse und juristischen Debatten detailliert nach. Mal nehmen sie sich dabei auf, strahlen die Livebilder über die Monitore aus, verwandeln ihr analoges Theaterspiel in Nachrichtenstatements und Konferenzbeiträge. Dann wieder agieren sie nur analog, kleben auf dem Boden eine Straßenkreuzung ab und finden sich gelegentlich zum Chor zusammen. Performativer Höhepunkt ist das Schneiden von Zwiebeln. Und tatsächlich verbreiten sich nach und nach Reizstoffe in der Luft, die sanft in den Augen zu brennen beginnen. Ebenso sanft sickert die Erkenntnis ins Bewusstsein, wie stark doch Schützengräben in Weltkriegen mit öffentlichen Plätzen in Innenstädten verknüpft sind.

„What about: fuego“ haben sich eines guten Themas angenommen. Der Berliner 1. Mai ist ja nicht weit. Und für das Ringtheater, das für sich in Anspruch nimmt, politisches Theater machen zu wollen, handelt es sich auch um einen gelungenen Auftakt in der neuen Spielstätte.

Weitere Spieltermine: 16.–18. April, Alt-Stralau 68, 10245 Berlin-Friedrichshain