Osteuropa-Workshop und die Ukraine: Nehmen und Geben

Viele Ukrai­ne­r:in­nen glauben, dass von einem Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union auch Europa profitieren wird.

Auf einer Illustration ist eine Figur zu sehen, die nach den Sternen greift.

Nach den Sternen greifen Foto: Manuel Fazzini

ODESSA taz In den vergangenen Monaten hat die Intensität der Angriffe auf die Region Odessa zugenommen. Fast täglich greift Russland die Stadt mit Raketen und Shahed-136/131-Drohnen an. Die Shahed-Angriffe finden abends oder nachts statt und können jeweils bis zu vier Stunden dauern. Die Luftverteidigung von Odessa kann nicht alles abfangen.

Der gesamte Biorhythmus und der Tagesablauf geraten aus dem Takt, wenn man nachts in einem Schutzraum oder auf dem Flur sitzen muss. Mit einem Telefon in der Hand verfolgen wir alles, was am Himmel über Odessa passiert.

In Odessa gehen die Kinder weiter zur Schule. Cafés, Restaurants, und Kinos sind geöffnet, in Sportvereinen wird trainiert. Auch Konzerte, Wettbewerbe und Konferenzen finden statt. Aber jederzeit können Menschen von einer russischen Rakete oder Drohne getötet werden.

Wenn eine ballistische Rakete im Anflug ist, hat man nur zwei bis drei Minuten Zeit, um in Deckung zu gehen oder in den Korridor zu rennen. Um mehr Leben zu retten, brauchen wir mehr Waffen. Wir alle träumen jetzt nur noch von einem Sieg in diesem Krieg. Viele Ukrai­ne­r:in­nen verbinden den Weg zu diesem Sieg mit dem EU-Beitritt.

Im April 2024 hat die taz Panter Stiftung erneut zahlreiche Jour­na­lis­t:in­nen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu einem Workshop nach Berlin eingeladen. Dabei entstandene Texte sind auf Sonderseiten der taz und auf taz.de am 26. April 2024 erschienen. Tigran Petrosyan, Leiter der Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung, erklärt in einem Editorial die Idee hinter dem Workshop. Nika Musavi, Sona Martirosyan und Tatevik Khachatryan schreiben über den vergessenen Konflikt im Südkaukasus.Anastasia Simonova schreibt über die Hoffnung vieler Ukrai­ne­r:in­nen auf den EU-Beitritt. Irina Tabaranu schreibt über Moldaus schwierige Beziehungen zur EU. Tornike Mandaria schreibt über Georgiens langes Streben nach Europa.Alle Texte auch aus vorhergehenden Workshops finden Sie hier.

Krieg in weiter Ferne

Alexei ist Soldat. Im März 2022 meldete er sich freiwillig für die ukrainischen Streitkräfte. Davor arbeitete er beim Fernsehen. Wir treffen uns in einem Café im Zentrum von Odessa. Die Sonne scheint, in der Nähe zischt eine Kaffeemaschine, Menschen gehen spazieren – hier scheint der Krieg weit weg. Aber nur bis zum nächsten Luftangriff.

Was denkt Alexei über den EU-Beitritt? Die Ukraine habe ihn verdient, denn das Land sei territorial und mental bereits ein Teil Europas. Die Ukraine könne Europa viel geben. „Ich spreche von Reformen und Innovationen im digitalen Bereich. Was das militärisch-industrielle Potenzial angeht, verfügt die Ukraine über enorme Erfahrung in der Kriegsführung. Wir müssen uns vereinen“, sagt Alexei.

Wenn die Ukraine Mitglied der EU werde, sei dies nicht nur für sein Land, sondern auch für Europa eine Garantie für den Frieden. Alexei betrachtet die Menschen, die gerade einen Kaffee trinken. „Jetzt im Krieg fühle ich Wut und Groll. Ich versuche zu überleben und etwas Nützliches zu tun. Ich habe mich an den Krieg gewöhnt. Er ist ein Teil meines Lebens geworden und wird das für immer bleiben.“

Der Gorki-Park in Odessa ist an diesem Sonntag gut besucht. Hier werden Lebensmittel an Binnenflüchtlinge verteilt. An einem der Tische steht eine rothaarige Frau – sie heißt Oksana und ist ehrenamtlich tätig. Auch Oksana musste fliehen.

Bei 40 Grad Hitze

„Unser Haus liegt in dem Teil der Region Saporischschja, der von russischen Truppen besetzt war. Wir haben fast sechs Monate unter Besatzung gelebt. Es wurde von Tag zu Tag gefährlicher und unmöglich, zur Arbeit zu gehen, ohne mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Razzien in Wohngebäuden, Beschuss, Festnahmen, absolute Schutzlosigkeit.“

Oksanas Familie musste Ende des Sommers 2022 das besetzte Gebiet verlassen. Das dauerte vier Tage – wegen Kontrollen, Durchsuchungen, Beschuss, Warteschlangen und all das bei 40 Grad Hitze.

„Wir wissen, dass in der Ukraine nicht alles perfekt ist, aber wir wollen wachsen. Auch an internationalen Behörden kann man arbeiten“, sagt sie. Organisationen wie die IAEA oder das Rote Kreuz müssten reorganisiert werden. Oksana gewöhnt sich an ihr neues Leben. „Ich habe einen Kurs als Stadtführerin gemacht, verbessere mein Englisch und arbeite ehrenamtlich. Man darf nicht aufgeben“, sagt sie.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.