„Wie kann ein Tuch zu solch einer Belastung werden?“

Die iranische Künstlerin Farzane Vaziritabar, die sich im Zuge einer Performance mal 50 Kopftücher umband, wird nun mit einer Pferdeapfelskulptur Bürgerbeschwerden sammeln

Kann das weg oder wird das noch Kunst? Farzane Vaziritabar spürt mit einer temporären Pferdeapfelplastik Hannovers Mist-Stände auf Foto: Fredrik von Erichsen/dpa

Interview Bettina Maria Brosowsky

taz: Frau Vaziritabar, Sie sind im Iran geboren, haben dort studiert, kamen 2018 nach Deutschland. Wie intensiv ist Ihr Kontakt in den Iran?

Farzane Vaziritabar: Der Kontakt zu meiner Familie und zu Künst­ler­kol­le­g:in­nen ist sehr intensiv. Wir telefonieren täglich. Ich war 2019 das letzte Mal im Iran, hatte eine Einzelausstellung in Teheran. Dann kam die Coronapandemie, dann die politische Situation im Iran, sodass ich nicht dorthin zurückkehren kann. Aber ich halte meine Kontakte. Mein Traum ist ein künstlerischer Austausch, wenn sich die politischen und ökonomischen Bedingungen verbessern und ich wieder in den Iran reisen kann.

Im September 2022 gab es nach dem Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini durch Misshandlungen der iranischen Sittenpolizei große Proteste im Iran. Das Kopftuch wurde zum Symbol des Protestes, es wurde öffentlich abgelegt. 2022 hatten Sie im Zuge Ihrer Performance „Gesehen werden“ eine Schicht aus 50 Kopftüchern angelegt, die Sie nach und nach von Be­su­che­r:in­nen abnehmen ließen. Warum das?

Das war meine Reaktion auf die Proteste, die ja ein Zeichen der Hoffnung waren, meine persönliche Erfahrung und eine spontane Choreographie, keine politische Aktion. Ich wollte Aufmerksamkeit erzielen für die Frage: Wie kann so etwas Leichtes, auch Modisches wie ein Tuch zu solch einer Belastung werden? Worum geht es für die Frauen?

Wie hat sich das Thema entwickelt?

Ich begann mit einer kleinen Aktion in einem Schaufenster in Weimar, dann kamen Einladungen ins Sprengel Museum Hannover, ins ZKM Karlsruhe mit einem Bericht beim ARD-Magazin „Titel Thesen Temperamente“, dann ins Kunstmuseum Wolfsburg. Die Kunsthallen Emden und Erfurt zeigten die Installation und das Video zu Ausstellungen über Fragen kultureller Identität, demnächst bin ich mit der Performance in Berlin.

Wie ist die Situation für Frauen im Iran heute?

Anders als 2019, bei meinem letzten Besuch, tragen viele junge Frauen kein Kopftuch mehr, trotz der Schwierigkeiten, die sie sich in der Öffentlichkeit einhandeln. Meine Aktion „Gewebte Welt“ aus dem letzten Jahr, eine lebendige Weltkugel aus Tüchern, reflektiert den Weg, den die Frauen gehen. Ich laufe auf den Tüchern, Teil­neh­me­r:in­nen solidarisieren sich, indem sie etwas hineinknoten, bevor die Tücher wieder zur Weltkugel eingerollt werden.

Performance Teil 2 Nach einem Wochenende voller Mist-Stände geht es in Hannover beschissen weiter: Am 6. und 7. Mai sammelt Farzane Vaziritabar mit ihrer tragbaren Pferdeapfel­skulptur mit Briefschlitz 10–14 Uhr am Welfengarten schriftliche Beschwerden.

Der Hannes-Malte-Mahler-Preis wurde vom Verein Feinkunst zusammen mit dem Sprengel Museum in Erinnerung an den 2016 tödlich verunglückten hannoverschen „Universalkünstler“ Mahler erstmals 2020 vergeben. Farzane Vaziritabar ist die zweite Preisträgerin insgesamt. Er ist mit 15.000 Euro Preisgeld und einem Produktionsbudget von bis zu 105.000 Euro dotiert. Verliehen werden soll er der Medien- und Performance-Künstlerin bei Abschluss des Projekts im Sommer 2026. Pianist Igor Levit hat sich verpflichtet, einen Teil der Preissumme durch Konzerte einzuspielen.

Vaziritabars Interventionen im Stadtraum knüpfen an den „Roten Faden“ an, den 1970 eingerichteten, rund 4,2 Kilometer langen Touristenpfad zu den wichtigsten historischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die Künstlerin wird die Stationen neu interpretieren und den öffentlichen Raum interaktiv beleben. (taz)

Kunst im öffentlichen Raum: Was fasziniert Sie daran?

Kunst im öffentlichen Raum kann eine politische Dimension haben. Meine Masterarbeit in Weimar war der „Farzaneplatz“. Viele deutsche Plätze tragen historische, maskuline Namen. Ich habe idiomatisch und metaphorisch einen alternativen Platz etabliert, als Ort des Austausches über die Kraft des Namens, über Empowerment, Menschenrechte, Freiheit. In Weimar habe ich, als Wortspiel, auf dem Frauenplan am Goethehaus mit Frauen über ihre Beziehung zur Stadt gesprochen, auch ihren „Plan“, habe sie kostenlos porträtiert. Der „Farzaneplatz“ ist universell, eine offene Serie.

In Hannover werden Sie bis 2026 im Zuge des „Roten Faden Hannovers“ eine Intervention im Stadtraum erstellen, für den Sie den Hannes-Malte-Mahler-Preis bekommen. Wie wird das Projekt aussehen?

Foto: Elham Asadpour

Farzane Vaziritabar

Jahrgang 1987, ist Künstlerin, hat in Teheran und an der Bauhaus Uni Weimar studiert.

Ich bin immer noch wie im Traum, was für eine Belohnung! Es ist eine erste Möglichkeit, in großem Rahmen zu denken, eine neue Dimension und tragfähige Grundlage für meine weitere Kunstpraxis. Mit meinem Projekt „Colorful Threads“, das sich an dem vorhandenen „Roten Faden“ mit 36 Stationen durch die Stadt orientiert, lege ich eine Bewegung im öffentlichen Raum an, eine neue Stadtkarte, und frage, was bedeutet mir ein Platz, eine historische Situation, ein Wahrzeichen? Was möchte ich kulturell und künstlerisch dort erleben? Meine Interpretation eines Ortes ist stets ein Wortspiel mit seinem Namen, daraus entwickeln sich performative Aktionen. Immer als Austausch, Kommunikation mit den Menschen, denn das ist das Wichtigste für eine lebendige Stadt! Aber es wird über neun Monate auch Ausstellungen etwa im Sprengel Museum oder bei Feinkunst geben, die Aktionen im öffentlichen Raum in den institutionellen Rahmen spiegeln und Knoten in den realen Routen in Hannover werden.

Sie sind aktuell in Hannover auch an dem Auftaktprojekt „Knäuel Kulturdreieck – Sieben künstlerische rote Fäden durch Hannover“ beteiligt. Was erwartet uns dort?

Das ist ein zeitlicher Zufall! Ich wurde eingeladen, einen „Farzaneplatz“ in Hannover anzulegen für einen neuen Roten Faden, eigentlich ja „meine“ Idee. Ich habe drei Stationen vorgeschlagen, eine davon am Ernst-August-Reiterstandbild vor dem Bahnhof. „Unter dem Schwanz“ heißt der Platz im Volksmund, aber es fehlt etwas, der Pferdemist. „Kacke am Dampfen“ wird das Motto sein, ein Raum für Beschwerden: politisch, lustig, interaktiv.