Theatertreffen Berlin 2024: Choreografie des Schreckens

Wo die Puppen tanzen, ist der Horror nicht weit. Porträt der Regisseurin Rieke Süßkow, die mit einem Werner-Schwab-Drama zum Theatertreffen kommt.

Figuren in rosa Latex gehüllt halten Bierkrüge in der hand

Szene aus: Übergewichtig, unwichtig, Uniform Foto: Konrad Fersterer/ Staatstheater Nürnberg

Es gibt gute Gründe, warum man sich eine Inszenierung von Rieke Süßkow anschauen sollte. Erstens: das Bühnenbild. Marlene Lockemann und Mirjam Stängl entwerfen für die 34-Jährige seit Langem Räume, die von verblüffender Symbolkraft und spielerischem Witz sind.

So hat Lockemann für Süßkows „Elektra. Ein Familienalbum“ am Berliner Ensemble ein Bühnenbild entworfen, das sich wie ein überdimensionales 3-D-Bilderbuch aufklappen lässt. Am Wiener Burgtheater entwickelte Mirjam Stängl für Süßkows Inszenierung von Handkes „Zwiegespräch“ eine wandelbare Faltwand, ausgestattet mit den Eigenschaften einer Ziehmarmonika, die das Immer-enger-Werden der Spiel- und Denkräume plastisch werden ließ.

Stängl wurde dafür letztes Jahr beim Theatertreffen mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Die Bühnenbildnerin und ihre Regisseurin sind 2024 erneut zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Mit Werner Schwabs „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“, herausgekommen am Staatstheater Nürnberg, endet das Theatertreffen an Pfingsten.

Auf der Bühne ist ein Mund

Diesmal stehen zwei Trampoline auf der Bühne, gut versteckt hinter einem riesigen Mund, der fast den ganzen Raum ausfüllt. Immer wieder kommen von oben herab gemalte Biergläser in den Raum zwischen den wulstigen Lippen. Und eine lange Wurst. Sechs Leute halten sich in diesem Wirtshaus-Rachen auf, einer davon steckt sich die Wurst in den Hintern. Das Bier saufen die sechs im Gleichklang ex. Kippt eine der Spielfiguren nach hinten, trifft sie auf das Trampolin, und hopp, schleudert es sie automatisch wieder hoch.

So ist der zweite Grund, sich eine Inszenierung von Rieke Süßkow anzusehen, die besondere Körperlichkeit ihres Theaters. Bei „Elektra“ (2020) war sie unter anderem inspiriert von der expressiven Körpersprache der Stummfilme, bei „Medea“ (2019 Kampnagel, Hamburg) von der Plakat- und TV-Reklame der 1950er.

Rieke Süßkow

Rieke Süßkow Foto: Stephan R. Thierbach

Durch bewusst formelhafte Bewegungssprache bekommen die Darstellenden bei ihr etwas Puppenhaftes. In „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ gehen die Schau­spie­le­r:in­nen eine Symbio­se mit Sexpuppen ein, die sie sich vor den Körper geschnallt haben. Sie erinnern auch an Schießbudenfiguren, und ihre Bewegungen ruckeln wie die eines Automaten. Süßkow schafft es, extreme Fremdbestimmtheit überzeugend über diese Körpersprache zu vermitteln.

Jenseits der Sprache

Sie möchte damit für „etwas, das man mit Sprache nicht ausdrücken kann, einen Ausdruck finden“. Dabei ging sie auch schon so weit, auf Sprache vollständig zu verzichten, etwa in „Medea“ und „Elektra“. Das stumme Theater entwickelt ein seltsam starkes Energiefeld, das vom kraftvollen Zusammenspiel aus Bühnenbild, Bewegung und Live­musik erzeugt wird.

Ein dritter Grund, ihrem Theater zuzuschauen, liegt in den spannend-verstörenden Live-Klangteppichen, die wie in einem Hörspiel an Bewegungsabläufe der Spie­le­r:in­nen gekoppelt sind. Der Sound will auf keinen Fall Realität reproduzieren – was in diesen Bühnenbildern auch unmöglich wäre –, sondern dient der zusätzlichen Verfremdung.

„ÜBERGEWICHT, unwichtig:UNFORM“ baut zusätzlich Werner Schwabs Sprache in die durchgetakteten Bewegungsabläufe ein. Und die hat es in sich bei dem Dichter, der für sich das Genre „Fäkaliendrama“ erfand.Was bei Rieke Süßkow nicht geht, ist Improvisieren: Das Bewegungsrepertoire ist für jede Sekunde vorgegeben. Dafür gibt sie den Zu­schaue­r:In­nen inhaltlich großen Freiraum. Denn sie möchte explizit „Assoziationsräume eröffnen, die wir Theatermacher nicht bestimmen können“.

Sperrig und charmant

Der österreichische Autor Werner Schwab war 1994 mit nur 35 Jahren gestorben. In seinen Dramen wimmelt es nur so von Gehässigkeiten und ­Obszönitäten. Rieke Süßkow inszeniert seit gut zehn Jahren. Schwab hat sie schon 2015 beschäftigt, als sie mit dem von ihr gegründeten Kollektiv „nicht.THEATEREnsemble“ sein Stück „Volksvernichtung. Oder meine Leber ist sinnlos“ auf die Bühne brachte.

In den mehr als 15 Inszenierungen, die sie bis jetzt verantwortete, hat sie sich auf deutschsprachige Ge­gen­warts­­au­to­ri:In­­nen fokussiert. Zwei Uraufführungen sind mit dabei und die Dramatisierung von Ferdinand Schmalz’ Debütroman „Mein Lieblingstier heißt Winter“. Süßkows Regiehandschrift ist sperrig und charmant zugleich. Und sie fordert, weil sie eingeübte Sehgewohnheiten aufbricht.

Süßkow wurde direkt nach ihrem Hamburger Regiediplom ins Stadttheatersystem übernommen und inszenierte zum Beispiel an den städtischen Bühnen Osnabrück. Mit 33 gab die Regisseurin im Burgtheater ihr Debüt und wurde zum Theatertreffen eingeladen. Mehr geht nicht im deutschsprachigen Theaterkosmos. Der Olymp ist bestiegen und dann geht die Arbeit in den Niederungen weiter.

Das Personal von „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ ist nicht nur boshaft, sondern von Kannibalen durchsetzt, die zuerst als gewaltbereite Gasthausbesucher auffallen. Es herrscht Gruselfaktor hoch zehn in den Katakomben des deutschen Stadttheaters!

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