Aktivist über Lösung im Nahost-Krieg: „Eine Art Freibrief für Israel“

Linke Israelis wie Nimrod Flaschenberg wollen, dass Deutschland die Zurückhaltung gegenüber Israel aufgibt und auf einen Waffenstillstand drängt.

Demonstranten halten Schilder auf weißem Grund "Deutschland dein Schweigen tötet"

Israelis for Peace Foto: Ute Loehning

taz: Herr Flaschenberg, Sie demonstrieren mit der Gruppe „Israelis for Peace“ seit Ende letzten Jahres jeden Freitag vor dem deutschen Außenministerium. Warum?

Nimrod Flaschenberg: Wir sind eine Gruppe linker Israelis und fordern vor allem einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und eine diplomatische Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt. Unsere dringendste Forderung an Deutschland ist, dass es Israel zu einem Waffenstillstand drängen muss, aber auch dass es insgesamt seine Politik der vollständigen Unterstützung Israels ändert. Die israelische Regierung setzt sich weder für Demokratie oder eine Zwei-Staaten-Lösung noch für Menschenrechte ein. Vor ein paar Monaten haben wir von der deutschen Regierung einen Positionswechsel gefordert, jetzt fordern wir konkrete Taten.

Was hat sich verändert?

Inzwischen spricht sich die deutsche Regierung für einen Waffenstillstand aus und kritisiert das Verhalten Israels. Aber wir sehen keine konkreten Maßnahmen wie etwa den Stopp von Waffenlieferungen oder die Aussetzung von mehreren Partnerschaften, insbesondere im Kontext der Besatzung im Westjordanland. Deutschland ist aktuell der zweitgrößte Waffenlieferant Israels. Ohne die Waffenlieferungen aus Deutschland, den USA und anderen Staaten könnte Israel den Krieg in Gaza nicht weiterführen und wäre gezwungen, ein Abkommen zu schließen.

ist Israeli und lebt seit 2022 in Berlin. Er ist einer der Initiatoren von Israelis for peace, die seit Ende 2023 jeden Freitag vor dem Auswärtigen Amt in Berlin demonstrieren. Flaschenberg ist Mitglied der sozialistischen Parteienallianz Hadash in Israel. Von 2019 bis 2022 war er Referent der palästinensischen Knessetabgeordneten Aida Touma Sliman und Kampagnenmanager der überwiegend arabischen Parteienallianz Joint List.

Die Exportgenehmigungen aus Deutschland sind in diesem Jahr bisher weit geringer als 2023, das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, ECCHR klagt aktuell gegen die Umsetzung bereits vereinbarter Waffenlieferungen. Aber wenn wir über die internationale Ebene sprechen: Welchen Einfluss hat Deutschland da denn überhaupt?

Deutschland könnte aufgrund seiner führenden Position in der EU eine wichtige Rolle spielen. Die EU ist als größter Handelspartner Israels wegen ihres internationalen Einflusses und ihrer Verbindungen zu israelischen Entscheidungsträgern ein sehr wichtiger Akteur. Wenn Deutschland seine Position zu Israel nur ein wenig ändern würde, könnte das die Position der EU insgesamt sehr verändern.

Sie fordern in letzter Zeit vor allem einen Waffenstillstand und den Stopp deutscher Waffenlieferungen nach Israel. Hat die Forderung nach Freilassung der Geiseln weniger Priorität?

Es ist eine der wichtigsten Forderungen. Alle Leben sind gleich wichtig. Aber Israel belügt seine Bevölkerung und die Welt, wenn es behauptet, die Militäroffensive in Gaza trage zur Freilassung der Geiseln bei. Das ist falsch. Die bisher freigelassenen Geiseln kamen fast alle während des Waffenstillstands frei, seit dem Ende des Waffenstillstands wurden sogar Geiseln bei israelischen Befreiungsversuchen getötet. Die Geiseln können nur durch einen Waffenstillstand freikommen.

Ist es möglich , die Hamas militärisch zu besiegen?

Die Hamas ist eine schreckliche Organisation, die zu verurteilen ist. Ihre Gräueltaten vom 7. Oktober sind abscheulich und entsetzlich, ich kenne Menschen, die dort gestorben sind. Aber die meisten israelischen Kommentatoren sehen keine Chance, sie durch militärische Aktionen zu besiegen.

Und wie kann man sie dann bekämpfen?

Die einzige Möglichkeit besteht darin, jene Kräfte innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft zu stärken, die eine politische Lösung und den Frieden unterstützen. Wir müssen den Palästinensern einen Horizont von Hoffnung und Freiheit eröffnen. Denn die Hamas profitiert – ebenso wie die israelische Regierung und die israelische Rechte – von Konflikten und Blutvergießen.

Was ist Ihre Vision?

Ich persönlich halte die Zwei-Staaten-Lösung für die einzig praktikable Lösung, aber unsere Gruppe fordert dies nicht ausdrücklich. Wir fordern eine diplomatische Lösung, die die kollektiven Rechte sowohl der Palästinenser als auch der Israelis anerkennt.

Wie beurteilen Sie die Diskussionen zu Israel und Palästina in Deutschland?

Ich sehe die zentrale Bedeutung des historischen Kontextes der Beziehung zwischen Deutschland und den Juden. Ich denke aber, dass es dringend notwendig ist, die Diskussion um Israel und Palästina im deutschen Diskurs zu normalisieren und Israel wie einen Staat zu behandeln, der ein Besatzungsregime unterhält, und so damit umzugehen wie mit Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt. Die deutsche Regierung interpretiert die Idee der Staatsräson als eine Art Freibrief für Israel, mit den Palästinensern zu machen, was es will. Für mich ist offensichtlich, dass die deutsche Gesellschaft nicht die gleiche Position vertritt, sondern versteht, dass die Verbrechen, die in Gaza geschehen, nicht entschuldigt werden können – weder durch eine Staatsräson noch durch die deutsche Geschichte. Ich erwarte deswegen von der deutschen Gesellschaft, dass sie Druck auf ihre Regierung ausübt.

Und wie nehmen Sie das zivilgesellschaftliche Engagement hier wahr ?

Als ich hierherzog, war ich überrascht, wie klein die Zivilgesellschaft in Deutschland ist, die sich für eine politische Lösung im Nahen Osten und für Frieden in Israel und Palästina einsetzt. In den USA, Großbritannien oder Frankreich ist das ganz anders. Da gibt es jüdische, palästinensische und gemischte Gruppen. Es gibt sowohl linksradikale propalästinensische Gruppen als auch liberale Gruppen – sogar auch zionistische –, die gegen die israelische Politik und die Besatzung sind. Viele setzen einen Schwerpunkt auf Lobbyarbeit, Politik und Gesetzgebung und positionieren sich dabei weder ausgesprochen stark antizionistisch noch sehr energisch pro Israel.

Was beobachten Sie hier?

In Deutschland fehlt es an Organisationen, die solche liberalen Positionen zu Israel und Palästina in der Zivilgesellschaft vertreten. Ich sehe hier ein paar Organisationen der Linken und der palästinensischen Diaspora, die als Basisbewegung Proteste und Interventionen durchführen, wie Palästina spricht, und einige jüdische radikale Gruppen wie die Jüdische Stimme oder den Jüdischen Bund. Auf der anderen Seite gibt es Organisationen, die absolut proisraelisch sind, wie den Zentralrat der Juden und die Deutsch-Israelische Gesellschaft.

Einige der von Ihnen genannten propalästinensischen Gruppen haben den Terrorangriff vom 7. Oktober als Akt der Befreiung bezeichnet. Was halten Sie von solchen Erklärungen?

Viele Texte, die von propalästinensischen und linken Gruppen nach dem 7. Oktober veröffentlicht wurden, waren schrecklich. Aber ich denke, noch schrecklicher sind die Taten, die Israel in Gaza begeht. Es ist kompliziert, denn diese Erklärungen machen mich wütend und ich fühle mich von einigen in der Linken und in der Palästina-Solidaritätsbewegung verraten. Aber wir müssen uns auf die aktuellen Ereignisse, auf die von Rache und Vergeltung geleiteten Angriffe des israelischen Staates konzentrieren. In diesem Sinne tun die Menschen, die gegen den Krieg und für einen Waffenstillstand demonstrieren, das Richtige, auch wenn mir einige ihrer Erklärungen nicht gefallen.

Gehen Sie selbst auf propalästinensische Demos?

Ich habe an mehreren propalästinensischen Demos teilgenommen, und viele aus unserer Gruppe gehen sehr oft dort hin. Wenn ich ein Problem habe, dann mit den seltenen Fällen, in denen Angriffe auf Zivilisten gerechtfertigt werden, die ich wirklich ablehne und inakzeptabel finde.

Was ist mit dem Existenzrecht Israels?

Was das Existenzrecht Israels angeht, müssen alle Seiten verstehen und anerkennen, dass beide Völker, Israelis und Palästinenser, ein kollektives Recht auf Selbstbestimmung haben. Die Israelis haben dieses Recht bereits verwirklicht, das muss den Palästinensern jetzt auch ermöglicht werden. Im deutschen Kontext ist die Interpretation, ob das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, oft überzogen. Im Fall der Aussage „From the river to the sea, Palestine will be free“, bin ich sicher, dass einige Leute, die das fordern, denken, das Land müsse von Juden befreit und die Juden müssten vertrieben werden. Aber ich kenne viele Menschen, die diesen Slogan skandieren, die an einen demokratischen Staat glauben, in dem Juden und Araber zusammenleben, mit Staatsbürgerschaft und gemeinsamen Rechten. Ich sehe kein grundsätzliches Problem darin, das zu fordern. Meiner Meinung nach gibt es eine gefährliche Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus. Die Kriminalisierung von propalästinensischen Äußerungen ist völlig übertrieben.

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