Mehr als eine Frage des Geschmacks

Vergangenen Samstag hat mit Nemo eine nichtbinäre Person den ESC gewonnen. Der Sieg verdeutlicht, wie queerfeindlich unsere Gesellschaft noch immer ist

Kann es kaum glauben: Nemo aus der Schweiz hat in Malmö abgeräumt Foto: Walter Bieri/Keystone/dpa

Von Amelie Sittenauer
und Annika Reiß

Iwent to hell and back, To find myself on track, I broke the code“, sang Nemo am vergangenen Samstag in Malmö und gewann mit der Performance zum Song „The Code“ den ESC. Nemo ist nichtbinär, identifiziert sich also weder als Mann noch als Frau, und bricht so wirklich mindestens einen Code. Den der binären Geschlechtsidentität. Entweder „männlich“ oder „weiblich“ funktioniert nicht mehr.

Der ESC ist ein guter Ort, um Codes zu brechen. Im Jahr 1998 gewann mit Dana International erstmals eine trans Frau den Wettbewerb. Und spätestens seit dem Sieg von Dragqueen Conchita Wurst 2014 ist der Songcontest das alljährliche Groß­ereignis queerer Popkultur in Europa. Nemos Sieg könnte also einfach gefeiert werden – nicht nur wegen der Musik, sondern als ein weiterer Schritt in puncto Sichtbarkeit und Empowerment von nichtbinären, trans* und inter* Menschen.

Doch Nemo schlägt seit Samstag nicht nur Liebe, sondern auch Diskriminierung entgegen – und das keineswegs nur aus reaktionären Kreisen. In der Berichterstattung (auch in der taz) wurden falsche, nämlich männliche, Pronomen genutzt. Über Nemos Identität wurde sich mit Clownfisch-Anspielungen lächerlich gemacht. Und auch in sozialen Medien finden sich nach Nemos Sieg allerlei abschätzige Kommentare wieder. Nach Kritik daran verharren viele in oberflächlichen Sprachanalysen, als wären die Pronomen eines Menschen vom Geschmack abhängig. Vergessen wird dabei, worum es eigentlich geht: Antidiskriminierung und Gleichbehandlung.

Um die zu erreichen, braucht es Gesetze. Das weiß auch der frisch gekürte ESC-Star. Nur kurz nach dem Sieg rief Nemo noch den Schweizer Bundesrat und Justizminister Beat Jans an, um die Einführung des dritten Geschlechts in der Schweiz zu fordern. 2022 war ein Vorstoß dazu vom Bundesrat abgelehnt worden mit der Begründung, „die Schweiz sei noch nicht bereit dafür“. Doch nun läuft die Debatte wieder an. Im Aufwind des Schweizer Siegs zeigen sich Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Jans oder Sibel Arslan gesprächsbereit, in konservativen Zeitungen wird hingegen haareraufend gefragt, was Mann und Frau dann überhaupt noch ausmache.

Doch Gesetze allein sind auch nicht die Lösung. In Deutschland gibt es die dritte Geschlechtsoption „divers“ seit 2018. Sie ermöglichte es anfangs nur Inter*-geschlechtlichen Personen nicht mehr mit der Geschlechtsidentität „Mann“ oder „Frau“ zugeschrieben zu werden, wenn sie sich damit nicht identifizieren. Mit der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes 2024 ist das seit diesem Jahr auch für trans* und nicht-binäre Menschen möglich. Denn, das sagt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, abgeleitet vom Grundgesetz: Niemand darf aufgrund des Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden.

Das scheint noch nicht bei allen durchgedrungen zu sein. Die Reaktionen auf Nemos Sieg zeigen, dass noch immer viel Unwissen und Falschwissen über non-binäre, trans* und inter* Lebensrealitäten herrscht. Und klar, fehlende Berührungspunkte im Alltag können eine Ursache sein, warum manche noch nie Pronomen wie beispielsweise „dey“ gehört haben oder nicht wissen, dass einige Menschen alle oder, wie Nemo, keine Pronomen benutzen.

Doch Unwissen entschuldigt nicht alles, denn wer missgendert, trifft nicht nur eine Entscheidung über Sprache. Wer missgendert, wertet ab, signalisiert, das Gegenüber nicht als gleichwertig zu verstehen oder ernst zu nehmen – kurz: Wer missgendert, diskriminiert. Sprache findet nicht im luftleeren Raum statt, sie kommuniziert die eigenen Entscheidungen, Einstellungen und Werte. Und für die eigenen Entscheidungen kann man verantwortlich gemacht werden. Nachfragen und Fehler machen ist okay. Allein deshalb, weil nicht alle Menschen die gleichen Zugänge haben, um an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen. Doch sich diesen Diskursen zu verwehren – ob aus Faulheit oder Unwillen – ist nicht okay.

Vor allem Jour­na­lis­t*in­nen tragen eine besondere Verantwortung. Ihre Aufgabe ist es, präzise, sensibel und diskriminierungsfrei mit Sprache umzugehen, dazu gehören auch Pronomen und Selbstbezeichnungen. Und Unwissenheit funktioniert hier erst recht nicht als Ausrede. Warum sollte man über Nicht-Binarität ­schreiben oder einen Text darüber verantworten, wenn man nicht genug darüber weiß? Das wäre für ei­ne*n Jour­na­lis­t*in in keinem anderen Fachbereich akzeptabel.

Wie so oft bleibt die Aufklärungs- und Antidiskriminierungsarbeit über den medialen Umgang mit Geschlechter­identitäten vorrangig bei queeren Menschen hängen. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten, sich das Wissen selbst anzueignen.

Vergangene Woche ist Nemo nicht nur über Nacht zum Musik-Star geworden, sondern auch zu einer Projektionsfläche der Polarisierung über Geschlechter, Körper und Macht. Bleibt zu hoffen, dass Nemo nicht nur mit Musik erfolgreich ist, sondern auch mit dem Einsatz für mehr Rechte für queere Menschen. In der Schweiz und andernorts. Einen Erfolg gibt es schon jetzt: Nemos Sieg hat dazu geführt, dass mehr Menschen als vorher wissen, was sich hinter Nicht-Binarität versteckt. Wir sollten zwar schon weiter sein, aber es ist ein Anfang.