EinNeuanfangist immermöglich

Die Umzugsfreudigkeit der über 65-Jährigen steigt, wenn auch auf niedrigem Niveau. Was ihre Motive sind, erklärt der Altersforscher Frank Oswald. Und wer diese Menschen sind, verraten vier Besuche in Köln, Berlin, Nürnberg und Alt Tellin

Wohnen gemeinsam in einem Co-Housing-Projekt in Köln: Peter Heinzke, Angelika Pohlert und Shahla Feyzi Foto: Jörn Neumann

Interview Barbara Dribbusch

wochentaz: Herr Oswald, die Ba­by­boo­me­r:in­nen gelten im Alter als flexibler im Vergleich zu den älteren Generationen vor ihnen. Wagen jetzt also viele der über 65-Jährigen noch mal einen Neuanfang und wechseln den Wohnort?

Frank Oswald: Die Umzugshäufigkeit älterer Menschen nimmt zwar zu, aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Die Umzugshäufigkeit jenseits des 65. Lebensjahrs ist sehr viel geringer als im Rest der Bevölkerung.

Welches sind denn die Motive für Umzüge nach dem Beginn des Ruhestandes?

Wir unterscheiden Grundmotive und sogenannte Wachstumsmotive. Ein Grundmotiv ist zum Beispiel, wenn mir das Haus zu groß geworden ist, wenn ich den Garten nicht mehr schaffe, wenn ich barrierefrei wohnen will, um selbstständig zu bleiben. Dann muss ich umziehen, zum Beispiel in eine altersgerechte Wohnung. Bei der Hälfte der älteren Umziehenden erkennen wir aber Wachstumsmotive, das heißt, die Menschen entscheiden sich freiwillig für einen Umzug, vielleicht um näher zu den Kindern und Enkeln zu ziehen und sich aktiv an deren Betreuung zu beteiligen. Manchmal ziehen Menschen auch wieder in ihre Herkunftsregion, nachdem sie vorher aus beruflichen Gründen woanders gelebt haben.

Spielt denn auch ein wärmeres Klima eine Rolle? Die Deutsche Rentenversicherung überweist alljährlich an 22.000 deutsche Ru­he­ständ­le­r:in­nen in Spanien Renten.

Es gibt Deutsche, die beispielsweise nach Mallorca ziehen als Zweitwohnsitz, meist sind das dann ihre früheren Urlaubsorte. Das ist aber eher eine temporäre Migration, viele behalten trotzdem noch eine Wohnung in Deutschland. Der Umzug mündet dann oftmals eher in die Segregation, nicht in die Integration, die deutschen Rentnerinnen und Rentner bleiben im Ausland häufig unter sich.

Ziehen Rent­ne­r:in­nen auch aus Kostengründen um? Etwa weil sie glauben, im Ausland billiger leben zu können?

Die temporäre transnationale Migration gibt es in der teuren und in der billigen Variante, je nachdem wo man hinzieht. Aber das trägt langfristig eher nicht. Man merkt vielleicht, dass die gesundheitliche Versorgung vor Ort nicht so gut ist wie gewünscht; dass der Nachbar mit seinem Schlaganfall doch sehr weit weg war vom nächsten Krankenhaus. Diese Umzüge betreffen zudem nur eine kleine Gruppe. Zwei Drittel aller Umzüge jenseits der 65 finden im unmittelbaren Umfeld im Inland statt.

Wer umzieht, bleibt also lieber in der Region?

Die Verbundenheit mit der Region, mit dem Ort, dem Kiez und der Wohnung ist grundsätzlich stark und im hohen Alter nochmal stärker. Die Menschen wollen, wenn sie im Alter umziehen, möglichst in ihrer Stadt und möglichst fußläufig zu ihrem alten Kiez bleiben. Man muss aber sehen: Die allermeisten älteren Menschen wollen gar nicht umziehen, sie wollen in ihrer angestammten Wohnung und Gegend bleiben, fast um jeden Preis.

Woher kommt diese Verbundenheit, wenn die Wohnung doch eigentlich zu groß geworden ist und sich die Nachbarschaft über die Jahre stark verändert hat?

Zum einen ist es schlichte Gewohnheit, zum anderen ist die Verbundenheit zur Wohnung, zum Haus und zur Umgebung so stark, weil das eine Verbindung zur eigenen Biografie, ein wichtiger Erinnerungsanker in die Vergangenheit sein kann. Hier habe ich mit meinem Mann gelebt, in diesem Zimmer haben meine Kinder gespielt, auf diesem Sessel herumgeturnt. Ich kenne die Nachbarschaft, als es noch kaum Autos gab auf der Straße, und so weiter. Das ist eine Verbundenheit, die man von außen gar nicht sieht, die mit der Dauer zu tun hat, die man hier gelebt hat. Deswegen funktioniert es nur selten, wenn man von Menschen verlangt, die größere Wohnung gegen eine kleinere irgendwo anders einzutauschen. Da helfen auch keine Umzugsprämien.

Viel wird ja immer erzählt über das gemeinschaftliche Wohnen im Alter als alternative Lebensform zum Alleinsein. Werden diese Modelle denn tatsächlich populärer?

Na ja, es wird über das gemeinschaftliche Wohnen mehr berichtet als drin gewohnt. Die Häufigkeit von alternativen Wohnformen für Menschen 65 Jahre und älter liegt unter drei Prozent.

Welche Voraussetzungen bringen die Leute dafür mit?

Das Wichtigste ist: Ich muss dafür bereit sein, mich aktiv einzubringen, Mitverantwortung zu übernehmen und nicht nur Annehmlichkeiten zu empfangen und darauf zu warten, dass ich bedient oder im Falle des Falles sogar versorgt werde. Das funktioniert sicher nicht. Es ist kein Modell, das quasi dem Heim vorgelagert ist. Es funktioniert immer nur dann, wenn eine grundlegende Bereitschaft zur Mitwirkung vorhanden ist.

Welche Menschen beteiligen sich denn an solchen Projekten?

Relativ häufig sind es jüngere, allein lebende Frauen, etwa 65 bis 80 Jahre alt. Paare in dieser Altersgruppe sind ebenfalls häufig. Allein lebende Männer sind dagegen eher relativ selten, vielleicht sind sie nicht entscheidungsfreudig genug.

Wenn Frauen zahlenmäßig so stark vertreten sind in den Projekten, müssen sie wohl nicht zuletzt auch untereinander sehr konfliktfähig sein?

Weniger Umzüge

Unter den Menschen über 65 Jahren gibt es pro Jahr nur rund 14 Umzüge je 1.000 Personen, das ist weniger als ein Drittel der Umzugsquote im Durchschnitt der Bevölkerung, die bei 48 Umzügen je 1.000 Personen liegt. Zwei Drittel der Umzüge der über 65-Jährigen finden innerhalb eines Radius von 50 Kilometern statt.

Freiwillig oder nicht?

Während nach Ruhestandsbeginn Umzüge oft freiwillig erfolgen, herrschen ab dem 80. Lebensjahr unfreiwillige Umzüge vor. 14 Prozent der Wohnortwechsel in sehr hohem Alter sind Einzüge ins Heim.

Alters-WGs sind selten

Nur 1 bis 3 Prozent aller über 65-Jährigen leben in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, darunter fällt das Mehrgenerationenwohnen oder auch Wohnprojekt für Ältere.

Man sollte in jedem Fall ein gerüttelt Maß an Sozialkompetenz mitbringen. Zwei andere Eigenschaften helfen auch – und das sind Offenheit und soziale Verträglichkeit. Offenheit für neue Erfahrungen ist generell wichtig für ein gutes Altern, Offenheit Neuem gegenüber, ob es Technik ist oder ob es andere Menschen sind, das ist enorm wichtig, nicht nur, aber auch im Bereich des Wohnens.

Hat das auch etwas mit Bildung zu tun?

Der Bildungsvorteil schwingt immer mit, weil Menschen mit höherer Bildung häufig bessere finanzielle Ressourcen haben und sich mehr leisten können. So sind Angebote, die zum Beispiel Barrierefreiheit mit ökologischem Wohnungsbau verbinden, besonders attraktiv, aber auch eher hochpreisig. Wir haben solche Angebote auch hier in Frankfurt und der Region.

Ist auch die Biografie wichtig für die Sozialkompetenz?

Es gibt Hinweise darauf, dass es hilfreich ist, dass viele Babyboomer früher schon mit anderen Personen zusammengewohnt haben, als Studenten in einer Wohngemeinschaft zum Beispiel. Wenn jemand Wohngemeinschafts- und Umzugserfahrungen von früher mitbringt, macht das einen Unterschied, was die realistische Einschätzung von Erwartungen an gemeinschaftliches Wohnen im Alter betrifft. Aber man darf nicht vergessen: Die Planungsdauer für solche Projekte beträgt oft fünf, sechs Jahre. Wer am Anfang dabei ist, zieht am Ende vielleicht gar nicht mehr ein. Und Gruppen haben häufig ihre eigene Dynamik: Mitunter sind es persönlichkeitsstarke „Projektprofis“, die sich engagieren und dann auch durchsetzen, auch damit muss man klarkommen.

18,4

Millionen Menschen in Deutschland sind 65 Jahre alt oder älter, das sind 22 Prozent der Gesamtbevölkerung. 1950 lag der Anteil bei nur 10 Prozent

Quelle: Destatis, 2023

1,1

Millionen Kinder wurden 1950 in Deutschland geboren, 2022 waren es nur mehr rund 739.000. Seit 1972 verzeichnet Deutschland ein Geburtendefizit

Quelle: Destatis

17,5

Prozent der Menschen ab 65 Jahren gelten aktuell in Deutschland als armutsgefährdet. Damit gehören Se­nio­r:in­nen zu den besonders von Armut betroffenen Gruppen

Quelle: Statista, 2024

19,4

Prozent betrug die Armutsgefährdungsquote von Seniorinnen im Jahr 2022 – die von Senioren nur 15,1 Prozent

Quelle: Statista

56

Prozent der Menschen über 84 lebten im Jahr 2022 allein. Damit lag der Anteil etwas niedriger als im Jahr 1996 (63 Prozent)

Quelle:­ Destatis

77

Prozent der 65- bis 84-jährigen Männer leben in Partnerschaften. Frauen kommen nur auf 55 Prozent und leben somit häufiger allein

Quelle: Destatis, 2024