UNBEZAHLTER SIEG
: Wer zuerst kommt

Jetzt streitet man sich schon um Bettelbezirke

„Ey, du Arschloch!“ Die junge Frau im Rollstuhl zieht sich mit einem Bein vorwärts durch die U 2. Dabei ist sie schnell und elegant. Das Arschloch, dem sie nachstellt, ist ein älterer Mann mit Bart, der zusieht, schnell davonzukommen, mehr laut als leise vor sich hin fluchend.

Es ist eine dieser neuen U-Bahnen, die keine abgetrennten Waggons mehr haben, einem dafür aber jederzeit das Gefühl von Achterbahn und Schwindelkeit vermitteln, schaut man in Fahrtrichtung durch den Zug und sieht ihn sich krümmen und winden wie eine lange Schlange. Eigentlich ist also Platz. Die junge Frau im Rollstuhl sieht das anders. Bis zur nächsten Station hat sie genug geschimpft. Der Mann steigt aus, aber nicht ohne ihr noch ein „Scheiße, Mann, ist ja gut“ an den Kopf zu knallen. Er hatte eine Regel verletzt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sie war zuerst gekommen, hatte als Erste alle Passagiere der Reihe nach um ein wenig Kleingeld gebeten. Er steigt zu, sieht sie und weiß sofort, was sich eigentlich für ihn geziemt hätte: wieder auszusteigen und die nächste Bahn zu nehmen.

Stattdessen flucht er und geht ein paar Meter vor, um dort anzufangen mit Betteln – in der Hoffnung, von seiner Konkurrentin nicht bemerkt zu werden. Denkste. „Jetzt streitet man sich schon um Bettelbezirke“, kommentiert ein dicklicher Mann grinsend. Eben noch hatte er seinem Sitznachbarn von einer Kollegin erzählt, die ihren Husten nie wieder loswerden wird: „Also, ich versteh die Leute nicht, die nicht zum Arzt gehen. Wenn das so weitergeht, verliert die noch ihren Job.“ Sein Nachbar nickt wissend.

Die Regeln des Marktes sind hart. Ein einziger Konkurrent kann dich aus der Bahn werfen, ebenso wie ein Husten. Für die junge Frau war aber auch Schluss in dieser U 2: Bis zur nächsten Station hatte sie noch ihr Glück versucht, aber den Sieg wollte ihr keiner bezahlen. FRAUKE BÖGER