Ärztinnen unter Terror-Verdacht

Seit dem Geiseldrama von Beslan werden in Russland ausländische Hilfsorganisationen häufig Opfer von Verfolgung durch den Geheimdienst FSB. Die Justiz tut tatkräftig mit

NASRAN taz ■ „Erst dachten wir, jemand hätte einen falschen Knopf gedrückt. Alles sei ein Versehen und ließe sich schnell aufklären“, meint Madina Chutijewa. Seit März 2004 wird die Ärztin aus der Kaukasusrepublik Inguschetien mit dreizehn ihrer Kolleginnen in Russland steckbrieflich gesucht. Das Ärztinnenteam arbeitet seit Jahren unter dem Dach der US-Hilfsorganisation International Medical Corps (IMC), die seit 1994 in Nasran, der Hauptstadt Inguschetiens, eine Dependance unterhält.

Die Fahndung erklärte die Ärztinnen zu „schwarzen Witwen“ – Selbstmordattentäterinnen, die meist den gewaltsamen Tod von Angehörigen rächen wollen. Dass nach ihnen gefahndet wurde, erfuhren die Medizinerinnen zufällig. Ein Mitarbeiter des IMC entdeckte den Steckbrief auf Moskaus Flughafen Scheremetjewo. Kurz darauf tauchten die Fotos im Internet auf und lokale Fernsehstationen im Süden Russlands übernahmen die Fahndungsmeldung.

Anfragen des IMC bei der Staatsanwaltschaft in Moskau, dem Innenministerium und dem russischen Menschenrechtsbeauftragten verliefen monatelang ergebnislos. Bis sich Moskaus Polizeichef Wladimir Pronin meldete. Er teilte mit, seine Behörde werde dafür sorgen, dass die Steckbriefe aus dem Verkehr gezogen würden. Den Sicherheitsorganen war der Aufenthaltsort der Ärztinnen bekannt. Trotzdem versuchten sie nicht, die Verdächtigen vorzuladen. Erst später sickerte durch: Das Dezernat für Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung hatte die Fotos an die Polizei weitergeleitet. Bei der Durchsuchung einer Tschetschenin wollen Antiterrorkämpfer auf die Hinweise gestoßen sein.

Nach der Geiselnahme in Beslan setzte eine neue Welle der Verfolgung ein. Unter den Terroristen in Nordossetien befanden sich auch Inguschen. Die Ärztinnen hatten schon vorher aus Angst vor Festnahme die Republik nicht mehr verlassen. Nun konnten sie sich gar nicht mehr frei bewegen. Auf einer Website erschien ein neuer Steckbrief. In der Nachbarrepublik Nordossetien veröffentlichte die Zeitung Slowo die Fahndungsfotos und forderte die Bürger auf: „Wenn Sie etwas über den Aufenthaltsort der Verdachtspersonen wissen, wenden Sie sich an den Inlandsgeheimdienst.“

Daraufhin stellen sich die Frauen dem Geheimdienst. Der schickt sie nach Hause, hebt die Fahndung aber nicht auf. Im Dezember werden die mutmaßlichen Terroristinnen rehabilitiert. Ein inguschetisches Gericht entscheidet, dass das Vorgehen des Innenministeriums und der Moskauer Polizei rechtswidrig gewesen sei und ordnet an, die Fahndung einzustellen. Am 14. Februar entdeckt ein IMC-Mitarbeiter an der Moskauer Metrostation Tscherkisowskaja ein neues Plakat. Aus den schwarzen Witwen im weißen Kittel sind Terroristinnen geworden, die mit bakteriologischen und chemischen Waffen operieren.

Das Team vermutet eine Kampagne. Die Präsenz ausländischer Hilfsorganisationen im Krisengebiet ist den Behörden ein Dorn im Auge. Sie stören, denn ihre Darstellung deckt sich nicht mit Moskaus Propaganda von einem Leben in Normalität in Tschetschenien. Die antiterroristische Betriebsamkeit verspricht weitere Dividenden. Der Staat demonstriert Wachsamkeit und wartet mit präventiven Fahndungserfolgen auf.

Die fragwürdige Praxis im Kampf gegen den Terror macht auch vor der Justiz nicht Halt. Im Februar verurteilte ein Moskauer Gericht Sara Murtusalijewa zu neun Jahren Lagerhaft. Der Tschetschenin wird die Vorbereitung von Terroranschlägen zur Last gelegt. Als Beweismittel reichten dem Gericht Fotos, die die junge Frau in einem Einkaufszentrum aufgenommen hatte und 200 Gramm Sprengstoff, die sich angeblich in ihrer Handtasche befunden haben sollen. Unabhängige Prozessbeobachter erklärten, das Verfahren hätte gegen internationale Rechtsstandards verstoßen und die Anklage sei konstruiert gewesen. KLAUS-HELGE DONATH