Kornkreise und Sperrstunde

Auf einer alten MZ durch den Süden Englands. Besonders reizvoll ist es, wenn man die gut ausgebauten Landstraßen verlässt und die kleinen Routen wählt, die über teils hügelige, teils kurvige, aber immer in kräftigem Grün leuchtende Regionen führen

VON VOLKER ENGELS

Der Zweitaktmotor der MZ schnurrt wie eine Nähmaschine, wenn sich das alte DDR-Motorrad über die kurvenreichen Landstraßen Südenglands vorbei an blühenden Rapsfeldern bewegt. Alte Motorräder finden hier, im Mutterland der Tradition, deutlich mehr Interesse als moderne Maschinen, die zwar deutlich leistungsstärker und abgasärmer sind, aber einen deutlichen Makel haben: Sie sind neu, haben keine Geschichte und damit kein Gesicht.

Eine Station auf dem Weg an die Küste ist die Stadt Cambridge, die vor allem für ihre Universität bekannt ist. Heute ist es warm und sonnig, morgen ist Feiertag. Die Pubs der mittelalterlichen Stadt sind gut gefüllt, das kühle Bier und das warme traditionelle Ale fließen in Strömen; das Motorrad parkt sicher im Hof einer kleinen Pension. Auf einer kleinen Mauer vor dem Pub lässt sich gut das bunte Treiben auf der Straße beobachten, wo sich eine Gruppe einheimischer Herren mit deutlich tätowierten Unterarmen in Erwartung der nahenden Sperrstunde mit reichlich Dosenbier eingedeckt hat. „Das ist die angemessene Kleidung bei diesen Temperaturen“, kommentiert eine ältere Dame den Radfahrer, der splitternackt und mit großer Ruhe an den Passanten vorbeizieht.

Der Weg zur Küste, der besonders reizvoll ist, wenn man die gut ausgebauten Landstraßen verlässt und kleine Routen wählt, führt über teils hügelige, teils kurvige, aber immer in einem kräftigen Grün leuchtende Regionen nach Salisbury. Schon von weitem gut zu sehen: die mächtige Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert, die die ansehnliche Altstadt dominiert. Gleich in der Nähe gibt sich ein älter Herr als Motorradfan zu erkennen: „Ich bin mit meiner tschechischen Maschine im letzten Jahr 5.000 Meilen gefahren, ein Großteil davon im Schnee.“ Ein bisschen Prahlerei ist in Ordnung, schließlich hat der gut gekleidete Herr die 70 sicher schon überschritten. Da verzeiht man auch, dass er beim Erzählen andauernd das Lenkrad der MZ tätschelt und sie „am liebsten gleich mitnehmen würde“.

Auch ohne Motorrad lassen sich von Salisbury einfache Ausflüge ins Umland machen. Ein Ziel nicht nur esoterisch angehauchter Touristen ist der geheimnisumwitterte Steinkreis von Stonehenge, der inzwischen allerdings eher an Disneyland als an druidische Kultstätten erinnert. Außerirdische oder Druiden sind heute nicht zu sehen, dafür haben vor allem Reisebusse aus Gelsenkirchen und Leipzig den Weg zu dem mystischen Ort gefunden, der heute so geheimnisvoll ist wie der Berliner Hermannplatz an einem Samstagvormittag.

Abends tröstet Pubwirt Roland, der seit 30 Jahren in Salisbury lebt, den „vom Touristen-Nepp“ enttäuschten Holger, der sich mit seiner Freundin Inge extra aus Deutschland auf den Weg gemacht hat, um in die Geheimnisse des Steinmonuments einzudringen: „Viel spannender und ein wirkliches Geheimnis sind ohnehin die Kornkreise, die in den südenglischen Feldern entstehen.“ Den Einwand, dass sich zwei Rentner als Urheber der Kornkreise bekannt hätten, wischt der Wirt souverän beiseite: Allenfalls „einige wenige Kreise“ gingen auf Kosten der grauhaarigen Spaßvögel. Es sei „sonnenklar, dass an der Sache mehr dran sein muss“. Klar, denn Kornfeldtouristen sind gut fürs Geschäft.

Zurück auf der Straße verzeihen die englischen Autofahrer Fehler beim Abbiegen oder Einordnen mit geradezu höflicher Gelassenheit, die sich vor allem dadurch ausdrückt, dass es so gut wie keine Huperei gibt. Immerhin herrscht Linksverkehr. Unverzeihlich dagegen ist, das Motorrad auf einem englischen Bürgersteig zu parken. Ein Polizist umschreitet bedeutungsvoll und mit ernster Miene das Motorrad, das vor einem Fish-&-Chips-Laden im südenglischen Portsmouth steht. „Motorräder gehören grundsätzlich auf die Straße, das kostet Sie 60 Pfund, Sir.“ Umgerechnet immerhin rund 90 Euro. Weil der Beamte weit gereist ist und weiß, dass in Deutschland Motorräder in der Regel auf dem Bürgersteig stehen, drückt er ein Auge zu.

Auf dem Weg an die Küste lohnt es sich, von den gut ausgebauten Hauptwegen abzuweichen, um über kleine Nebenstraßen immer wieder ans Meer zu stoßen. Autoverkehr gibt es kaum, allenfalls ein paar Schafe oder Rinder kreuzen bisweilen die Strecke. Manche Wege führen direkt am Meer entlang, bis sie sich wieder ins Landesinnere verabschieden. Gerade hat die Flut eingesetzt, was einige Anwohner zum Anlass nehmen, das einfließende Wasser durch ein Fernglas zu beobachten.

Kurz bevor das mondäne Seebad Brighton erreicht wird, legen wir einen Zwischenstopp im malerischen Städtchen Arundel ein, das am Ufer des Flusses Arun liegt. Beherrschend ist die riesige Burg, an deren Füßen die Kleinstadt liegt. Auf eine Festung im 11. Jahrhundert geht die Anlage zurück, die aufwändig restauriert wurde und zu den größten Schlössern in England gehört. Besonders beeindruckend ist die Bibliothek mit rund 10.000 Bänden aus dem 18. Jahrhundert. Die Ankunft im nahe Brighton katapultiert uns mit Macht zurück ins 21. Jahrhundert: Laut und großstädtisch wirkt das Seebad, das nicht nur durch seinen 500 Meter langen Pier bekannt wurde. Vor allem die Rockband The Who hat der Stadt mit ihrem Musical „Quadrophenia“ ein Denkmal gesetzt. Mods und Rocker, die sich prügeln, sind heute selten. Dafür gibt es eine lebendige Musikszene: „Einen solchen Laden suche ich bei uns vergeblich“, sagt Rüdiger aus Eisenhüttenstadt, der im Pub The Pavilion Tavern steht und begeistert dem melodischen Gitarrenrock der Nachwuchsband Nixon lauscht. Sänger und Gitarrist sprühen vor Spielfreude, der Rest der Band erinnert eher an Prinz Charles, der mal so richtig einen draufmachen will. Für Exzesse ist die Zeit in englischen Pubs ohnehin begrenzt: Die Sperrstunde verhindert, dass der Kneipenabend zu bunt wird.

Trotzdem hat die kleine Pension in der Nähe des Piers Schilder in ihren Zimmern aufgehängt, die wenig vornehm klingen: „Wenn du kotzen musst, benutz gefälligst den Eimer“. Für uns ist der Hinweis überflüssig, denn wir gehen ebenso früh wie nüchtern ins Bett. Morgen müssen wir zeitig aufstehen, weil die anstrengende Rückfahrt nach Harwich ansteht.