Barbie außer sich

Kann man sich aus einem eingefahrenen System befreien? Diese Frage stellt „Der Lack ist ab“ im Schauspielhaus

„Der Lack ist ab“, diese Redewendung meint: Wenn der schöne Schein verschwindet, dann tritt das Marode zu Tage, bei Autos ist das der Rost, beim Menschen sein mieser Charakter oder körperlicher Verfall.

„Der Lack ist ab“, so heißt auch das neue Stück der 24-jährigen Inga Wagner, seit drei Jahren Regieassistentin am Schauspielhaus. Am kommenden Sonntag kratzt Wagner dem Vorbild vieler Mädchen an der glitzernden Fassade, Barbie verliert ihr Gesicht. Noch schlimmer für die heile Matell-Welt: Barbie bricht aus. „Es geht in dem Stück darum, wie die Umwelt auf ein Individuum reagiert, das versucht, sich aus seinem System zu befreien. Geht das überhaupt?“, fragt Wagner.

Barbie (Edith Adam) lebt natürlich mit Ken (Felix Goesner) zusammen, in ihrer rosa Puppenwohnung. „Pink, alles schön pink, bis es in den Augen brennt“, so beschreibt Wagner die Bühne von Thorsten Passfeld. Alles läuft mechanisch in diesem System: Barbie und Ken wachen gemeinsam auf, sie gähnen, sie lächeln sich an, sie machen Morgengymnastik, sie lesen Modezeitschriften, sie schauen Fernsehen und gehen wieder ins Bett. Der monotone Alltag bietet keine Überraschungen und garantiert so Sicherheit. Ken macht das glücklich, Barbie langweilt sich. Sie rebelliert, und dazu braucht es in dieser eingefahrenen Enge wenig. „Sie verschläft, sie äußert Bedürfnisse, sie findet sich plötzlich schrecklich“, so Wagner.

Ken bleibt so lange konform, bis auch er im wahrsten Sinne des Wortes aneckt. Er stolpert über einen Stuhl, den Revolten-Barbie aus der gewohnten Position gerückt hat. Da funktioniert Ken nicht mehr. Und Betty (Anne Weber) taucht auf. Diese Figur bietet den Reiz des Neuen, ohne aber Ausbruch aus dem Gewohnheitskorsett zu garantieren, denn auch Betty interessiert sich nur für Äußerlichkeiten. Neu an ihr ist die Farbe, sie setzt dem Rosa ein quietschendes Grün entgegen. Betty trägt aktuelle Modemarken. Auch Betty kümmert sich um ihre Fassade, bleibt Teil der Scheinwelt, trotz ihres Strebens nach Individualität.

„Das finde ich auch im richtigen Leben so absurd. Alle wollen individuell sein. Aber gerade in dieser Entwicklung wird Individualität zu einem Massenphänomen“, sinniert Wagner. Sie hat das Stück selbst geschrieben, auf die Idee brachten sie die Menschen auf der Straße. „Zum Beispiel in der Langen Reihe. Da laufen viele gestylte Menschen rum. Viele Kens und Barbies gibt es um mich herum, die in ihrem Wertesystem von ‚alles ist gut‘ leben. Gerade junge Menschen machen sich äußerlich schön, um innere Unsicherheiten zu überspielen.“ Kommt man da raus? Die Frage, die die junge Regisseurin in ihrem Stück thematisiert, beschäftigt sie auch im richtigen Leben. „Man zieht sich ja immer wieder Klischees an, egal, was man trägt.“ Globetrotter und Co. haben die Aussteigerfashion salonfähig gemacht, Innovationen aus der Punk-Szene kann man ganz kultiviert bei Thomas I-Punkt kaufen. Was befindet sich jenseits der Äußerlichkeiten, was bleibt, wenn der Lack ab ist? Altmodisches wie Innerlichkeit bleibt auf der Strecke.

Nicht so bei Inga Wagner. Keine Vision tut sich für Barbie auf. Barbie, das Produkt der Wirtschaftswunderjahre, hat sich in der Illusion von Sicherheit eingerichtet, genau wie die erste Generation, die mit der Puppe spielte, ihre Töchter, ihre Enkel. Für Barbie genauso wie für die Generationen ihrer Puppenmütter bringen die im Schlagwort Hartz IV vereinigten Umwälzungen des Sozialen zunächst Unsicherheit, Konfrontation mit sich selbst, und dann ganz lange nichts.

Im Theater gibt es trotzdem etwas zu lachen. Wahrscheinlich, wenn Barbie zu Spieluhrenmusik ihre Wohnzimmer-Rebellion startet. Katrin Jäger

Uraufführung: So, 29.5., 22.30 Uhr, Schauspielhaus