Das Salz der Erde

Die Seufzer der bedrängten Kreaturen brauchen keine neue Kirche. Wer heute glaubt, tut das ganz freiwillig

Die Tage des sterbenssiechen Karol Woytila in Rom, der anteilnehmende Blick (nicht nur) der christlichen Welt auf den Papst und die Spannung, wer denn auf ihn nachfolge, sind gern als Signaturen einer neuen Religiosität gedeutet worden. Die Inbrunst der Seelen, entkernt durch die säkulare Welt, so die Unterstellung, sei deshalb so eruptiv zum Murmeln gekommen, weil es eben Zeit wurde. In einer rationalisierten Welt habe sich die tiefe Sehnsucht nach Glauben ein Ventil gesucht – und gefunden.

Eine fragwürdige, im Übrigen durch keinen Wirklichkeitstest zu belegende Annahme: Ungläubig war die Welt in den Zeiten der Aufklärung nie, selbst der Atheist, ein alter Kalauer der Theologie, bezieht sich auf Gott und die Seinen, um sich seiner selbst sicher zu sein. Tatsächlich hat der christliche Glauben – er vor allem – sich in der westlichen Welt durchgesetzt, dass es einer Kirche, einer Amtskirche, kaum mehr bedarf. Die Gotteshäuser, protestantisch wie katholisch, sind ja durch die vatikanischen Todes- und Inthronisationsshows nicht einen Deut gefüllter worden. Das ist auch kein Wunder, denn ebenso sehr wie die Menschen sich daran erinnern, dass die Trias von Glaube, Liebe, Hoffnung unzerstörbar ist, so sehr wissen sie auch, aus Wissen, aus Überlieferung, dass niemand sie mehr zu etwas zwingen kann – die inquisitorische Kraft der Kirchen ist verpufft, der Aufklärung und der Säkularisierung sei Dank. Sie fand, vor allem gegen die Amtskirchen, ihren Erfolg.

Wer also heute glaubt, tut es freiwillig – und selbst wer es bewusst nicht tut, tut es doch: Niemand, der nicht glaubt, der hofft, der nicht lieben will. Das ist die Präsenz des Jesuanischen schlechthin – und unabhängig vom priesterlichen Wort. Und das ist gut so: Niemand sei dir heilig, niemandem bist du untertan – denn Gott will es nicht. Sein Wort erscheine dir in allem und durch alles, aber es bedarf keiner Versicherung durch einen Pastor oder eine Pastorin mehr. Sie können nur eine liturgische Show bieten. Wichtig ist: Selbst in jedem Popkonzert, in Woodstock, auf der Loreley oder in Scheeßel, findet Gottes Werk zu sich, in den Performances nämlich, die am ehesten dann die Eschatologie als Kern leuchten lassen, wenn die musikalische Vorführung gelingt. In jedem schrägen Ton steckt also ein Moment von Blasphemie: Stell dich also nur dann auf die Bühne, wenn du dir deiner Seele sicher bist.

Aber um dies zu erkennen, braucht es keine Kirchenhäuser – man kann sie besuchen, man kann ihr Leben nutzen, muss es aber nicht. Das ist die befreiende Botschaft heutiger Nachfolger in der Tradition Jesu: Finde deine Liebe in dir selbst und sei dir dann des Herrn sicher; glaube, weil du es kannst; hoffe, weil du es ohnehin von morgens bis abends, vor allem in der Nacht, tust. Wer die Menschen auf offiziale Liturgien einschwören will, weiß nicht, dass alles schon gut ist. Das Salz der Erde liegt überall, nicht allein in dem, was die Ämter des Glaubens künden können. Jan Feddersen

Am heutigen Donnerstag debattiert taz-Redakteur Jan Feddersen in der Diskussionsrunde „Allmacht, Jungfrauengeburt, Heilige Christliche Kirche – muss alles raus?“, Halle 17, Messegelände, 15-18 Uhr. Am Freitag bei „Gemeinde für andere? Distanzierte erreichen“, Expowal, Eventebene, Chicago Lane 9, 16.30-18 Uhr