„Victory-Zeichen sind zynisch“

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Das Motto des Evangelischen Kirchentags ist „Wenn dein Kind dich morgen fragt …“ Welche Fragen Ihrer vier Töchter haben Sie besonders in Erinnerung?

Margot Käßmann: Das waren existenzielle Fragen. Etwa als der Patenonkel meiner jüngsten Tochter gestorben ist: Was passiert beim Tod? Das ist für viele junge Leute eine elementare Frage. Und das Christentum muss seine Antwort, dass nämlich der Tod nicht das Ende, sondern ein Schritt auf einem Weg zu Gott ist, viel basisnäher, wenn Sie wollen: kindlicher geben.

Ist es Ihnen damals schwer gefallen, diese Antwort zu geben?

Schwer gefallen nicht. Aber es ist keine Antwort, die Sie mal flapsig über den Mittagstisch werfen. Da ist es schon gut und ungeheuer wichtig, Zeit zu haben, auch über diese Fragen zu reden. Das fehlt vielen Kindern heute: Zeit, diese Fragen des eigenen Lebens, der Sinnfindung zu besprechen.

Hatten Sie manchmal für die Fragen Ihrer Kinder keine Zeit? Sie waren ja sehr früh in kirchlichen Leitungsgremien beschäftigt.

Ich glaube, für die wichtigen Dinge war immer Zeit da – aber das müssten Sie vielleicht meine Kinder fragen.

Sie haben einmal gesagt, das Leben auf dem Dorf mit drei Kindern hätten Sie „als richtige Sackgasse empfunden“ – nicht sehr charmant für Ihre Kinder.

Frauen wird ja dieser „schlechtes Gewissen“-Vorwurf gern gemacht. Sie sollen ganz glücklich sein, nach einer akademischen Ausbildung dann ihr Lebensglück drei oder später vier Kindern widmen zu dürfen. Ich fühle mich überhaupt nicht als Rabenmutter, wenn ich sage, dass ich immer beides wollte: Kinder und Beruf. Ich hätte beides – nur Beruf oder nur Kinder – als eine gewisse Sackgasse empfunden.

Die Übersetzung des Kirchentagsmottos aus dem hebräischen Original wäre eigentlich, gerade weil es da im jüdischen Verständnis um das Einhalten von Gesetzen geht: „Wenn dich dein Sohn fragt …“ War „Sohn“ dem Kirchentag nicht politically correct genug?

Wenn wir uns den Text und den Kontext anschauen, ist es weniger der Sohn oder der junge Mann, der fragt, sondern die junge Generation, die fragt: „Was haben euch eure Regeln bedeutet, haben die euch Orientierung gegeben?“ Genau das fehlt uns heute: dass zwischen junger und alter Generation erzählt wird, wo Menschen Halt und Orientierung gefunden haben. Dafür brauchen wir mehr Zeit.

Ist das ein vielleicht typisch deutsches Problem, weil in den 50er-Jahren so viel Schweigen am Mittagstisch war über die Vergangenheit der Eltern?

Es mag schon sein, dass dieses Schweigen über die eigene Verantwortung in der Zeit des Nationalsozialismus dazu geführt hat, dass es zwischen den Generationen so wenig Gesprächskultur gibt. Aber erstaunlich ist in den neuesten Umfragen schon, dass die Eltern heute den Kindern viel näher sind als früher. Das ist ja auch ein positives Zeichen. Wir wollen schließlich nicht alles in eine große Depression reinreden.

Aber das machen wir Deutschen doch so gern!

Ja, furchtbar gern! Ich war kürzlich in Äthiopien, einem der ärmsten Länder der Erde. Da habe ich Sterbende auf der Straße gesehen – und trotzdem ist das ein Land mit Hoffnung. Was in Deutschland diese Verliebtheit in die Depression ausmacht, weiß ich wirklich nicht.

Sie haben zum Thema „Armut und Reichtum als Anfrage an die Kirche“ promoviert: Hat die Generationengerechtigkeit, die etwa der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber immer betont, nicht fast automatisch zur Folge, dass wir uns einschränken müssen zugunsten unserer Kinder? Und hieße das nicht ganz konkret in heutige Politik übersetzt: Die Kirche muss für Hartz IV sein?

Dieser Schluss geht mir jetzt zu schnell. Es ist richtig, wir müssen, wenn wir in Zukunft investieren wollen, in Kinder und Jugendliche investieren, was viel zu wenig passiert.

Wir müssen uns aber einschränken um unserer Kinder willen, oder?

Ja, aber ist Einschränkung eigentlich so wahnsinnig schlimm? Dieses Land hat seit 1945 immer mehr gehabt, es ist immer mehr geworden. Aber es ist nicht glücklicher geworden. Das ist doch das Verrückte.

Die Frage ist: Wer muss sich einschränken?

Das ist tatsächlich die große Frage. Gibt es auch eine Bereitschaft zum Miteinander – oder nur eine Egomanie, wo jeder rafft und festhält, was er hat? Es ist klar, dass es eine Verantwortung der Starken für die Schwachen gibt. Was mich umtreibt: Nur noch 38 Prozent der Bevölkerung über 50 Jahren sind erwerbstätig. Jetzt wird dauernd über ein soziales Pflichtjahr für junge Leute geredet – warum gibt es so etwas nicht für Menschen über 50?

Vieles, was im Zuge neoliberaler Wirtschaftspolitik entschieden wird, trifft gerade die, die sich nicht weiter einschränken können, oder?

Das ist ein Problem für unser Land: dass die Schere auseinander geht zwischen den Leuten am Existenzminimum, die am 20. aufgebraucht haben, was sie für den Monat brauchen, und denen, die sich dreimal im Jahr einen Urlaub leisten können. Auch die Lebenswelten fallen immer weiter auseinander. Das kann für das soziale Miteinander im Land nicht gut sein. Manche Familien wissen einfach nicht mehr, wie es weitergehen soll.

„Grundsätzlich hat die Bibel nichts gegen Reichtum“, haben Sie einmal gesagt. Gibt es nicht auch persönlichen Reichtum, der pervers ist?

Grundsätzlich hat die Bibel tatsächlich nichts gegen Reichtum, wenn er nicht zum Götzen wird. Bei uns tritt Reichtum an die Stelle Gottes: Bist du reich, kaufst du dir einen Busen wie Paris Hilton, dann macht dein Leben Sinn. Ein perverses Beispiel sind für mich die Leute, die jede Stunde wissen wollen, wie es der Börse geht – die wollen nicht jede Stunde wissen, wie es den Menschen geht. Wer hat eigentlich in diesem Land so viele Aktien, dass ihn das permanent interessieren muss?

Und wie deuten Sie das Jesuswort „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel“.

Ich glaube schon, dass es für Reiche viel mehr Versuchungen gibt, nur noch für sich selbst zu leben. Und sich abzukoppeln vom Rest der Welt und dem, was ich an Elend und Armut sehe.

Muss die Kirche protestieren, wenn deutsche Unternehmen Milliardengewinne machen und gleichzeitig Arbeitsplätze massiv abbauen?

Ja.

Muss sie dann zum Boykott aufrufen, etwa der Deutschen Bank?

Ich denke, dass Politik mit dem Einkaufskorb wichtig ist. Konsumenten haben Macht – siehe die erfolgreiche Boykottaktion „Kauft keine Früchte der Apartheid!“ gegen Südafrikas Rassentrennungspolitik in den 80er-Jahren.

Die Kirche könnte dazu aufrufen, die Konten bei der Deutschen Bank aufzulösen und zu einer anderen Bank zu gehen.

Aber ob das weiter führt? Zuerst sollte sie mit Ackermann & Co. sprechen und deutlich machen: Die Werte, von denen Sie sprechen, sind keine Werte, auf die sich ein Miteinander in der Welt aufbauen lässt. Und Victory-Zeichen dieser Art sind zynisch.

Würden Sie dazu aufrufen?

Ich habe jedenfalls mein Konto nicht bei der Deutschen Bank. Allerdings: Auch die Kirche muss ihr Geld anlegen. Da bin ich für klare Kriterien, wie sie der Ökumenische Rat formuliert hat: Wo Geld etwa durch Waffenhandel verdient wird, kann die Kirche ihr Geld nicht anlegen. Und: Wenn alle immer nur billig kaufen, müssen sie sich nicht wundern, dass die Arbeitsplätze auch immer billiger werden.

Das Konservative scheint derzeit in Glaubensdingen – siehe den Hype beim Tod des alten und der Wahl des neuen Papstes – wieder im Kommen zu sein. Muss auch die evangelische Kirche den Laden strikter zusammenhalten, auch mal gegen den Zeitgeist stehen? Der österreichische katholische Theologe Paul Zulehner hat es in der taz einmal polemisch so ausgedrückt: „Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist bald geschieden.“

Ich ärgere mich oft über den lapidaren Zeitgeist-Vorwurf, weil es doch um die Liebe zu den Menschen geht. Dann müsste Jesus auch Zeitgeist-Versessenheit vorgeworfen werden, weil er den einzelnen Menschen in seiner Lebenssituation angesehen hat und sie so angesehene Personen wurden – auch die Ehebrecherin, auch den Ausländer. Selbst Judas hat er so angesehen. Aber ich erhalte derzeit viele solche Zeitgeist-Beschimpfungen per Mail.

Zulehner hat präzisiert, dass sich die protestantischen Kirchen zu sehr der Moderne der 70er-Jahre verschrieben hätten und nun auch an der Krise dieser Moderne litten. Ist da was dran?

Dem würde ich in gewissem Umfang zustimmen, weil wir viel zu viel über die Folgen des christlichen Glaubens geredet haben – und dabei vergessen haben, was eigentlich der Glaube ist. Wenn die Menschen nicht mehr wissen, wer Jesus Christus war und was Ostern bedeutet, kann ich nicht von den Konsequenzen und der Diskursivität des christlichen Glaubens reden.

Zum Abschluss: Hören Sie sich den offiziellen Song des Kirchentags von Heinz Rudolf Kunze freiwillig an?

Ich höre ihn mir freiwillig an, ich kann ihn gut hören. Es gibt daran viel Kritik – aber das macht nichts: Auseinandersetzung gehört zum Protestantismus.