Treffen sich hundert Buddhisten im Wald

Wenn sich Anhänger der Zen-Schule versammeln, dreht sich alles um das Sitzen. Das kann recht schmerzhaft werden, konfrontiert die Praktizierenden aber auf direktem Weg mit sich selbst. Eine Übung auch für die aufrechte Haltung, die eigentlich allemal der Normalzustand des Menschen sein sollte

Aus Gorenzen/Harz Gernot Knödler

Wieso tust du dir das an? Seit 40 Minuten sitzt du bewegungslos auf dem Kissen und versuchst dir einzureden, das Gefühl, dir ein Bein abzuquetschen, sei halb so schlimm. Genauer: gar nicht da. Auch nicht der linke Strang deiner Rücken-Muskulatur, der sich partout nicht mehr entspannen will und dich schier wahnsinnig macht. Alles Illusion! „Der Lotus-Sitz hat noch niemandem geschadet“, sagt ein Berliner Zen-Meister, und er hat vermutlich Recht. Nach dem Verlassen der Sitzhalle, des Dojos, klingt der Schmerz schnell ab, und wenn das nächste Mal das Holz geschlagen wird, trottest du ergeben zur nächsten Runde.

27 Einheiten Zazen, Sitzen im Zen, stehen uns in dieser Woche im Harz bevor, hat ein Zimmer-Genosse ausgerechnet. Knapp hundert Buddhisten sind aus halb Europa angereist, um mit ihrem Lehrer fern von den Sorgen und Zerstreuungen des Alltags zu meditieren. Sie versammeln sich regelmäßig, mal in Frankreich, mal in Deutschland, mal nur für ein Wochenende, mal zehn Tage.

Die Organisation ist eingespielt: Wer die Zimmer verteilt, wer kocht, wer sich um die Ordnung im Dojo kümmert, ist im voraus bestimmt worden. Die laufenden Arbeiten werden ad hoc verteilt: „Vier Leute zum Tische Abräumen, vier Leute zum Spülen, zehn zum Gemüse Schneiden“, fordert der Verantwortliche. Manchmal gibt es peinliche Pausen, bis sich genügend Freiwillige gefunden haben. Dass das dauert, ist menschlich – jedoch nicht im Sinne der religiösen Praxis, die sich im Zen-Buddhismus nicht nur auf die Meditation im Sitzen beschränkt. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, hat ein alter Meister gesagt.

Jede Meditationseinheit besteht aus durchschnittlich zweimal einer Dreiviertelstunde Sitzen, dazwischen zehn Minuten rituelles Sich-die-Beine-vertreten. Wie lange es im Einzelfall wirklich dauert, bestimmt der Zen-Meister. Philippe Coupey, ein buddhistischer Mönch aus Paris, legt ordentlich vor: eine Stunde am Stück am ersten Abend, eine eineinviertel Stunde wird es am fünften Tag morgens sein. „Ich dachte, es sei eine halbe Stunde gewesen“, entschuldigt sich der Meister.

Beim Zazen geht es nicht um Kasteiung. „Zazen ist die wahre Haltung des Wesen Mensch“, sagt Coupey. Die Beine zum Lotus-Sitz verschränkt, das Becken leicht nach vorne geneigt, die Wirbelsäule senkrecht aufgerichtet, das Kinn zurückgezogen. Ein würdiges Bild, wie es Buddha-Statuen zeigen, und wie es nach der Überzeugung der Zen-Anhänger direkt auf den großen historischen Buddha zurückgeht: In gleicher Weise soll Shakyamuni-Buddha in Bodgaya unter dem Bodhi-Baum gesessen und die Erweckung erfahren haben.

„Die aufrechte Haltung ist der Normalzustand des Menschen“, sagt Coupey. Sie soll es ermöglichen, lange Zeit unbeweglich auszuharren, ohne einzuschlafen. Tatsächlich vermittelt schon der halbe Lotus-Sitz, bei dem ein Fuß auf den Oberschenkel des anderen Beines gelegt ist, ein befriedigendes Gefühl der Stabilität. Schmerzhaft und schwierig sei Zazen nur, weil „Generationen körperlicher Deformation“ hinter uns liegen, versichert Coupey.

Wer in Zazen sitzt, soll sich dieser Haltung überlassen und nichts tun. Er soll entspannt, aber nicht schlaff in Position bleiben, sich mit halb geöffneten Augen innerlich selbst betrachten und keinen Gedanken ausspinnen. Dass das nicht einfach ist, gehört zur Erfahrung: Der Übende erlebt, wie sehr er an den immer wiederkehrenden Fantasien seiner eigenen kleinen Welt hängt, dass er sich über Dinge erregt, die nichts mit den kommenden anderthalb Stunden oder gar dem gegenwärtigen Augenblick zu tun haben.

Wer eine Woche in die Abgeschiedenheit einer Waldjugendherberge bei Sangerhausen fährt, braucht nicht zum hundertsten Mal an den anstehenden Lohnsteuerjahresausgleich denken oder daran, wie er vor fünf Jahren von einem Kollegen gekränkt wurde. Er kann ja ohnehin nichts tun, und alles was dazu bedacht werden könnte, ist bereits gedacht. Was da wie ein Mühlrad im Kopf herumgeht, dreht hohl. „Sie erfahren das Nicht-Selbst“, sagt der Zen-Meister.

Er sitze jetzt schon seit mehreren Jahren und erlebe das als einen Prozess der Desillusionierung, sagt ein Berliner Zen-Schüler bei der Fragestunde. „Hier sitze ich stundenlang vor einer Holzwand und finde es eigentlich ziemlich langweilig.“ „Gott hinterher zu rennen ist reiner Materialismus“, sagt Coupey. „Gott sind wir – natürlich im bescheidensten Sinne.“ Was kann es in diesem Sinne Höheres geben, als sich selbst zu beobachten und dabei die Gedanken wie Seifenblasen platzen zu lassen – beim Gehen, Stehen, Sitzen, Essen, Trinken, Arbeiten, Lieben.

Der geregelte Ablauf einer Meditationsklausur, eines Sesshins, fördert diese Desillusionierung. Das Meditieren kündigt eine Serie sich beschleunigender Schläge auf eine Holzbrett an, gibt es Essen, wird auf Metall geschlagen, zur Arbeit ruft die Glocke. Wer das hört, geht idealiter einfach los, ohne sich Gedanken zu machen. „Es ist nicht schwer, den Weg zu durchdringen, doch man muss frei sein von Liebe und Hass, von Neigung und Abneigung“, heißt es im ältesten bekannten Zen-Text, dem Shin Jin Mei von Meister Sosan aus dem siebten Jahrhundert. Der Zen-Buddhismus konstruiert Traditionslinien von großen Lehrern bis zurück zu Buddha: Einer soll seine intuitive Weisheit an den anderen weitergegeben, der andere intuitiv verstanden haben. Coupey erzählt die Geschichte, mit der diese Übertragung begonnen haben soll: Eines Tages drehte Buddha eine Blume sacht zwischen den Fingern. Keiner der Anwesenden verstand diese Geste, Buddhas Meisterschüler Mahakashyapa aber lächelte. „Du hast die Essenz meiner Lehre begriffen“, sagte Buddha.

Im japanischen Soto-Zen, einer Richtung, zu der die Hundert im Harz gehören, gibt es Formen, die seit ihrer Einführung durch den Zen-Meister Dogen vor 800 Jahren im wesentlichen unverändert geblieben sind. Es gibt Zen-Schulen, die Meditationsklausuren gänzlich in Schweigen abhalten. Nicht so bei der Assosacion Zen Internationale (AZI), der Coupey und seine Schüler angehören. Der 1982 verstorbene japanische Zen-Meister Taizen Deshimaru gründete sie in Ende der 60er Jahre in Frankreich. Das anbrechende Zeitalter des Wassermanns trieb ihm scharenweise Hippies zu, die er nicht mit den strengen Formen des Zen japanischer Prägung konfrontieren wollte. „Die Weitergabe durch die Jahrhunderte bedeutet nicht, dass ihr nicht in der Jetztzeit lebt, dass ihr nicht Avantgarde seid“, sagt Coupey. Obwohl der Zeitgeist wieder konventioneller wird, gibt es an manchen Abenden noch eine Bar, an der sogar Alkohol ausgeschenkt wird, und beim traditionellen Sommerlager eine Party. Das Sitzen ist hart genug.