„Gebt uns Recht, nicht Geld“

AUS ALGIER REINER WANDLER

Taous Hamach ist empört. „Ich kann doch meinen Sohn nicht verkaufen, als wäre er ein Stück Vieh!“, schimpft sie. Vor wenigen Wochen haben die algerischen Behörden der 54-Jährigen ein vierseitiges Formular zukommen lassen. Dort sollte sie eintragen, wann und wie ihr Sohn Farid in die Hände der Sicherheitsbehörden geraten und dann verschwunden ist. Dann würde sie eine Entschädigung bekommen, gleichzeitig aber auch auf jedwede Strafverfolgung verzichten. „Das will ich nicht. Ich will wissen, wo er ist, was sie mit ihm gemacht haben!“ Taous Hamach schüttelt wütend den Kopf.

Es war der 23. August 1995, als Beamte der Polizei und des militärischen Sicherheitsdienstes mitten in der Nacht Bir Khadem umstellten, einen Vorort von Algier, in dem die Hamachs wohnen. „Teils vermummt, teils mit offenem Gesicht, drangen rund 20 Beamte in unsere Wohnung ein“, erinnert sich Taous Hamach. Unter Flehen der Mutter zerrten sie den 17-jährigen Farid aus der Wohnung und nahmen ihn mit. „Ich hatte einige erkannt und wusste, dass sie aus der Kaserne in Ben Aknoun waren“, erinnert sich Taous Hamach. In den folgenden Tagen wurde sie dort immer wieder vorstellig. Vergebens.

„Ich will jetzt kein Geld, ich will Gerechtigkeit“, bricht es aus der Frau heraus. Mittwoch für Mittwoch folgt Taous Hamach wie Dutzende anderer Angehörige dem Aufruf von „SOS Disparus“ (SOS Verschwundene) und zieht vor das Gebäude der staatlichen Menschenrechtskommission im Zentrum Algiers. Die meisten von ihnen sind Frauen – im langen Gewand, mit Kopftuch und Schleier. „Wo sind unsere Kinder?“, rufen sie und halten Fotos der Verschwundenen in der Hand. Oft sind es Ausweiskopien. Auch Frau Hamach hat nur ein vergrößertes Passbild von Farid.

„Er hat doch nichts getan“, wiederholt sie immer wieder. Wie zum Beweis zeigt sie auf das Foto – ein 17-jähriger Junge, ordentlich gekämmt. Farid machte gerade eine Lehre zum Dreher, als er gekidnappt wurde. Das will nicht dem Klischee eines islamistischen Terroristen entsprechen.

Sieben Monate nach Farids Entführung schlugen die Vermummten abermals zu. Sie überfielen das Haus von Serid Soltani, dem Bruder von Taous Hamach. Als sie ihn dort nicht fanden, stürmten sie die Wohnung seiner Schwiegereltern, wo sie ihn schließlich fanden. „Auch er ist seither spurlos verschwunden“, sagt Taous Hamach. Serids Frau wartet seitdem mit den fünf Kindern auf Nachricht. Den jüngsten Enkel nimmt Taous Hamach gelegentlich mit zur Demonstration. Er kennt seinen Vater nicht, wenige Tage nach dessen Verschwinden wurde er geboren.

Bis heute sucht Taous Hamach nach einer Erklärung, warum Polizei und Armee ausgerechnet ihre Familie heimgesucht haben. „Wir hatten doch mit den Islamisten nie was zu tun“, beteuert Frau Hamach. Sie selbst, ihre Geschwister und auch die Familien, in die sie eingeheiratet haben, kommen alle aus der Kabylei, die Heimat der wenig religiösen Berberminderheit, östlich von Algier. Alle sympathisieren sie mit der weltlich orientierten Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) des Unabhängigkeitsveteranen Ait Ahmed.

„Die Suche nach Gründen ist zwecklos“, sagt Fatima Yous. Die Frau ist Vorsitzende von „SOS Disparus“. Arbeiter, Ärzte, Anwälte, Parlamentsabgeordnete, Jugendliche – ja selbst Kinder sind unter den mehr als 12.000 Menschen, die nach Angaben nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen in Algerien verschwunden sind. Oft reichte die Aussage von Inhaftierten, die unter Folter jeden beschuldigten, dessen Name ihnen in den Sinn kamen.

Es waren die Jahre nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen, Jahre des Kampfes zwischen islamistischem Untergrund und dem Regime. „Sie holten sie aus der Wohnung, vom Arbeitsplatz oder aus der Moschee“, erzählt Yous, die selbst einen Enkel unter den Opfern hat. In manchen Familien verschwanden nach und nach alle Söhne und zum Schluss noch der Vater. „Es ging ihnen darum, ein Klima der Angst zu erzeugen“, sagt Fatima Yous.

„SOS Disparus“ fordert seit Jahren eine internationale Untersuchungskommission. Doch die algerische Regierung hat stattdessen einen nationalen Untersuchungsausschuss eingesetzt. „Wir arbeiteten mit dem Ausschuss zusammen, doch was dabei herauskam, ist mehr als enttäuschend“, beschwert sich Fatima Yous. Ende März trat der Vorsitzende des Ausschusses Farouk Ksentini vor die Presse. 6.146 Menschen seien in den Jahren von 1992 bis 1998 in Händen „der Agenten des Staates“ verschwunden. Der Staat sei verantwortlich, aber nicht schuldig, wand sich Ksentini und bot eine Entschädigung an. „Selbstverständlich ist der Staat nicht nur verantwortlich, sondern auch schuldig. Die Verbrechen geschahen im Auftrag der Regierung“, schimpft Fatima Yous.

Für sie ist die Entschädigungsregelung „ein großes Täuschungsmanöver“. Zwar könne, wer kein Geld akzeptiert, vor Gericht ziehen. „Doch das bringt nichts, denn in wenigen Monaten soll es eine Generalamnestie geben, dann werden die Verfahren alle eingestellt“, klagt die SOS-Vorsitzende.

Im Auftrag von Staatspräsident Abdelasis Bouteflika erarbeitet eine Kommission einen Straferlass sowohl für den islamistischen Untergrund als auch für Angehörige von Polizei und Armee. „Sie wollen das Kapitel Verschwundene abschließen, ohne uns unsere Angehörige zurückzugeben“, sagt Fatima Yous, die sich sicher ist, dass ein Großteil noch am Leben ist, „irgendwo in geheimen Gefangenenlagern oder in den Verliesen der Militärkasernen“. „Monsieur le President, haben Sie Erbarmen mit uns!“, heißt es in einem Brief der Angehörigen an Staatschef Bouteflika.

„Sie leben noch“, weist auch Taous Hamach jeden Zweifel zurück. „Überallhin habe ich Anfragen geschickt“, erzählt Hamach und zieht einen Stapel von Einschreibeformularen hervor – an Justizministerium, Innenministerium, Verteidigungsministerium, an das Amt des Ministerpräsidenten. Ohne Antwort. Doch es besteht Hoffnung. Immer wieder bekomme sie anonyme Anrufe von Menschen, die Sohn und Bruder gesehen haben wollen, erzählt sie. Demnach seien beide von der politischen Kammer des Obersten Gerichts abgeurteilt wurden. Ihr Sohn Farid soll mehrmals in der Kaserne von Benaknoun gesehen worden sein. Die Spur ihres Bruders Serid verliere sich im Gefängnis von Algier. Farid ist jetzt 27, Taous Hamach sagt: „Wir werden nicht eher Ruhe geben, bis wir unsere Verschwundenen wieder haben.“